London. Warteschlange mit festem Regelwerk, strikte Kleiderordnung und ein Habicht, der Tauben jagt – Traditionen des Turniers einzigartig.

Länger als an allen anderen Tagen wird sie sein an diesem Montagmorgen, die berühmteste Schlange Englands. Schließlich ist wieder „Manic Monday“, dieser verrückte Tag nach dem traditionell spielfreien Sonntag, an dem beim wichtigsten Tennisturnier der Welt alle 16 Achtelfinalpaarungen bei Damen und Herren ausgespielt werden. Deutsche Profis sind nicht mehr am Start in Wimbledon, aber für Matches wie das von Grand-Slam-Rekordsieger Roger Federer (37/Schweiz) gegen Italiens Shootingstar Matteo Berrettini (23) oder des neuen „Wunderkinds“ Cori Gauff (15/USA) gegen die rumänische Ballwand Simona Halep (27) lohnt sich das frühe Auf- und Anstehen allemal.


Und so werden sich Tausende, von denen die meisten im Wimbledon Park gezeltet haben, von morgens um 6 Uhr an auf die Jagd nach den 300 Center- Court- und bis zu 1000 Tickets für die weiteren Außenplätze begeben, die jeden Tag im freien Verkauf bereitgehalten werden, um die 39.000 Zuschauer fassende Anlage auszuverkaufen. Es ist eine der vielen Traditionen, die dieses Turnier so liebenswert und einzigartig machen, wobei das Wort „Jagd“ im Zusammenhang mit der „Queue“ deplatziert ist. Kaum etwas läuft in England, zumindest unter Beteiligung der „Upper Class“, schließlich so gesittet ab wie Schlangestehen. Und so gibt es ein 30-seitiges Regelheft, „The Guide to Queueing“, das den Verhaltenskodex in der kilometerlangen Menschenreihe festlegt. Wer dagegen verstößt, weil er beispielsweise exzessiv Alkohol trinkt oder länger als 30 Minuten Pinkelpause einlegt, wird kein Match live erleben.

Habicht Rufus hat eínen eigenen Twitter-Account

Auch Rufus darf, wenn Tennis gespielt wird, nicht auf die Anlage. Das liegt allerdings nicht daran, dass er sich nicht zu benehmen wüsste. Im Gegenteil, der Elfjährige ist einer der wichtigsten Mitarbeiter im All England Lawn Tennis Club (AELTC), der während der zwei Turnierwochen rund 6000 Angestellte beschäftigt. Seine Arbeit jedoch beginnt schon um 5 Uhr morgens und muss erledigt sein, bevor um 10.30 Uhr die Stewards die schmiedeeisernen Tore zum 13,5 Hektar großen Gelände an der Church Road mit seinen 18 Match- und 20 Trainingscourts öffnen.

Um 10.30 Uhr strömen bis zu 39.000 Menschen auf die Anlage.
Um 10.30 Uhr strömen bis zu 39.000 Menschen auf die Anlage. © imago images / Hasenkopf


„Rufus the Hawk“ ist ein Habicht, seine Aufgabe besteht darin, die Tauben zu verjagen, die unter den Stadiondächern nisten und mit ihrem ätzenden Kot die Bausubstanz angreifen oder auch die Spiele stören könnten. Vier Stunden lang fliegt er unter Aufsicht von Imogen Davis, Geschäftsführerin von Avian Environmental Consultants, über die Anlage. Und weil das viele Menschen sympathisch finden, ist Rufus ein Star. Er durfte schon beim britischen Volkshelden Andy Murray oder Spaniens Sandplatz­giganten Rafael Nadal auf dem Schlagarm sitzen, „leider noch nicht bei Roger Federer, das wäre ein Traum“, sagt Imogen Davis, deren strahlende Augen verraten, wer diesen Traum tatsächlich hegt. Sie pflegt für Rufus dessen Twitter-Account, dem 10.400 Menschen folgen. Als er 2012 vom Rücksitz ihres Autos gestohlen wurde, war das weltweite Interesse an der dreitägigen, letztlich erfolgreichen Suchaktion enorm.

Baseballcap mit schwarzem Unterschirm nicht erlaubt

Man mag solcherlei Schrulligkeiten für typisch britischen Spleen halten. Doch gerade weil das Turnier, das 1877 zum ersten Mal am damaligen Standort Worple Road ausgetragen wurde, an Traditionen wie diesen festhält, hat es seinen Platz als weltweit angesehenstes Rasensport-Event bewahren können. „Es ist eine große Herausforderung, den Spagat zwischen Tradition und Moderne zu bewältigen“, sagt Richard Lewis, Hauptgeschäftsführer des AELTC, „aber es wird immer Traditionen geben, von denen wir nicht abweichen.“ Dazu gehört die strikte Kleiderordnung, die den – inklusive Qualifikation – 790 Teilnehmern ausnahmslos weiße Bekleidung vorschreibt. Als Titelverteidiger Novak Djokovic am Freitag zu seinem Dritt­rundenmatch gegen den Polen Hubert Hurkacz ein Baseballcap mit schwarzem Unterschirm tragen wollte, musste er es abnehmen. Wimbledon, so die Botschaft, ist größer als die Größten.


Ein Problem gibt es in diesem Jahr mit den Erdbeeren. Für viele Fans ist ein Wimbledon-Besuch erst perfekt mit dem Genuss eines Schüsselchens der Früchte, die aus der Grafschaft Kent jeden Morgen frisch geliefert und in Portionen von zehn bis zwölf mit flüssiger Sahne angeboten werden. Der Preis von 2,50 Pfund ist seit 2010 stabil, 166.055 Portionen wurden 2018 verspeist. Doch in diesem Jahr sind die Beeren kein Genuss, sondern so wässrig wie niederländische Tomaten. Da hilft nur, mit einem Glas Pimm’s nachzuspülen, diesem klebrig-süßen Cocktail, dessen Alkoholgehalt den saftigen Preis von 8,50 Pfund für 0,3 Liter ebenso vergessen lässt wie die Erdbeer-Enttäuschung.

Das Gras wird auf exakt acht Millimeter getrimmt

Doch so sehr aus der Zeit gefallen, wie Wimbledon zum Beispiel mit der Ergebniswand hinter dem Center Court wirkt, auf der nach jedem Match ein Mitarbeiter auf die Leiter steigt, um per Hand das Resultat und dessen Auswirkung auf das Turniertableau kenntlich zu machen: Selbstverständlich ist auch der AELTC, der nur 375 Vollmitglieder hat und eine Warteliste mit 1000 Namen führt, die seit Jahrzehnten existiert, mit der Zeit gegangen. 2009 wurde, um dem berüchtigten britischen Regen ein wenig trotzen und den TV-Sendern Liveberichte garantieren zu können, der 14.979 Zuschauer fassende Center Court überdacht. In diesem Jahr folgte der 12.345 Plätze große Showcourt 1.

Präzisionsarbeit auf dem genau acht Millimeter langen Rasen.
Präzisionsarbeit auf dem genau acht Millimeter langen Rasen. © WITTERS | SimonStacpoole

Die größte Diskussionsfläche indes bietet die Platzqualität. Jeden Tag wird das besonders dicht wachsende Perennial Ryegrass auf exakt acht Millimeter getrimmt, um auf jedem Matchcourt dieselben Bedingungen zu bieten. Doch wegen des Walzens und verschiedener Untergründe sind einige Plätze deutlich langsamer als andere. Ein Umstand, der auch Greenkeeper Neil Stubley ärgert. „Unser Anspruch ist, dass alle Plätze inklusive Trainingscourts dieselbe Qualität haben. Aber Gras ist ein lebender Untergrund. Die Natur können auch wir nicht austricksen“, sagt er. Manches ist eben doch noch größer als Wimbledon.