Hamburg. Beim Deutschen Derby können die Zuschauer per App Wertungsrichter spielen. Derbysieger Dolf Keller erklärt, wie das funktioniert
Das Diskutieren über die Leistungen von Schieds-, Punkt- oder Wertungsrichtern hat sich in Deutschland fast zu einer eigenen Sportart entwickelt. Dass es im Fußball viele Millionen Hobby-Bundestrainer gibt, die jede Entscheidung des Spielleiters kommentieren, ist die Grundlage mehrerer Talksendungen in verschiedenen TV-Sendern. Es aber besser zu machen, dazu fehlt den selbsternannten Experten meist der Mut, oft aber auch die Gelegenheit.
Die Dressurreiter, die sich von kommendem Mittwoch an im Derbypark Klein Flottbek treffen und dort am 2. Juni zum 61. Mal den Sieger im Deutschen Derby küren, wollen zumindest Letzterem Abhilfe schaffen. Die Betreiber der Internetseite Dressursport-Deutschland.de haben in Kooperation mit dem Fullservice-Dienstleister Reitportal24 die App „Spectator Judging“ entwickelt, die kostenfrei in den gängigen App-Stores heruntergeladen werden kann. Mittels dieser Anwendung können Zuschauer weltweit bei Turnieren jede einzelne Prüfung persönlich bewerten und ihre Resultate mit denen der fünf Richter abgleichen.
Interner Wettstreit
Nach jedem Ritt wird eine Durchschnittsnote der Publikumswertung ermittelt, sodass sich zwischen Zuschauern und Richtern eine Art interner Wettstreit entwickelt. Als Neuerung wird es in Hamburg in der Grand Prix Kür am Sonnabendabend erstmals einen Publikumspreis geben, für den die Zuschauer Wertungsnoten in den Kriterien Harmonie, Fairness und Leichtigkeit vergeben. Der Reiter mit der höchsten Wertnotensumme erhält den „Harmonie Fairness-Preis“, unter den teilnehmenden Besuchern werden zehnmal 50 Euro verlost.
Wer jedoch als Laie am Dressurviereck sitzt, wird sich angesichts der Komplexität der Prüfung fragen, wie eine faire und korrekte Wertung gelingen soll. Aus diesem Grund bat das Abendblatt Dolf Keller um Erklärung und Expertentipps. Der 63-Jährige, der 2003 das Derby gewann und aktuell eine Woche pro Monat in Brasilien und den Rest der Zeit in Europa als Trainer arbeitet, hat selbst Erfahrung als Richter, darf allerdings nur bis auf mittlerer nationaler Turnierebene eingesetzt werden. Worauf es ankommt, um auf höchstem Grand-Prix-Niveau wie bei Olympischen Spielen oder im Derby korrekt zu werten, kann er als ehemaliger Bundestrainer, Reitmeister und Richter-Fortbilder selbstverständlich einschätzen.
Ausbildungsskala umfasst sechs Kategorien
Zunächst sei wichtig zu wissen, dass jedes Dressurpferd ab einem Lebensalter von drei Jahren nach der mehrere Hundert Jahre alten deutschen Heeresdienstvorschrift (HDV) ausgebildet wird. Die Ausbildungsskala umfasst sechs Kategorien, die längst weltweit gültig sind: Den Takt, der das Gleichmaß der Bewegungen in den Grundgangarten Schritt, Trab und Galopp umfasst; die Losgelassenheit, die die physische und mentale Entspanntheit des Pferdes, gepaart mit einer positiven Körperspannung beschreibt; die Anlehnung, die ein ruhiges, geschlossenes Maul und eine Stabilität in Genick und Hals erfordert; den Schwung, der durch ein energisches Abfußen der Hinterbeine mit einem Vorwärtsimpuls erzeugt wird; die Geraderichtung, die der natürlichen Schiefe eines jeden Pferdegangs entgegenwirken muss; und die Versammlung, die ein kürzeres, fleißiges Unterfußen der Hinterhand in Richtung des Bewegungsschwerpunkts beschreibt.
„Nur wenn all diese sechs Kategorien zusammenwirken und zu einer Harmonie zwischen Pferd und Reiter führen, kann eine Dressurprüfung optimal gelingen“, sagt Dolf Keller. Eine Grand-Prix-Prüfung wie das Deutsche Derby, die vom Weltverband FEI erarbeitet wird und immer für einen Olympiazyklus von vier Jahren gilt, besteht aus 33 verschiedenen Lektionen, die die Athleten auswendig können müssen. Innerhalb dieser Lektionen, die in der App einsehbar sind, sind die geforderten Teilelemente genau beschrieben. Diese umfassen sowohl die verschiedenen Gangarten, die in drei (Schritt) respektive vier (Trab und Galopp) Tempi unterteilt sind, als auch die abzureitenden Distanzen und die unterschiedlichen Trabbewegungen. Ebenso vorgeschrieben sind die Bewertungskriterien für die Urteile der fünf Richter, die im Dressurviereck (siehe Skizze unten) an festgelegten Positionen sitzen.
Harmonische Ausführung ist entscheidend
Ein Beispiel: In Lektion 7 und 8 ist eine Passage (höchster Versammlungsgrad im Trab) über die Positionen V, K und D mit anschließender Piaffe (Trabbewegung auf der Stelle) mit zwölf bis 15 Tritten vorgeschrieben. Die Richter haben dabei besonders auf die Gleichmäßigkeit zu achten, aber auch auf das Trittmaß, die Aktivität und die Elastizität sowie die Übergänge zwischen den Lektionen. Für jede Lektion gilt der Höchstwert von zehn Punkten, die Richter notieren entsprechend 33 Punktwerte, die summiert werden.
Da elf Lektionen aufgrund ihres Schwierigkeitsgrades doppelt zählen, ergibt sich ein Höchstwert von 440 Punkten. Auf diesen werden maximal 20 Zähler als Bewertung für die Sitzposition und die Qualität der Hilfestellungen des Reiters addiert. Die Abweichung der tatsächlichen von der maximalen Punktzahl ergibt den Prozentwert, den jeder Richter als Ergebnis bekannt gibt.
Reiter, die die Aufgaben nicht auswendig können und deshalb falsch ausführen, werden beim ersten Verreiten mit einem Abzug von zwei Prozentpunkten vom Endergebnis bestraft und beim zweiten Fehler disqualifiziert. Ein Zeitlimit für die Ausführung der Prüfung gibt es nicht, der Richtwert sind 5:45 Minuten. Punktabzug gibt es allerdings, wenn das Paar nicht spätestens 45 Sekunden nach dem Einläuten der Prüfung am Startpunkt bereitsteht.
Werten Sie drauflos!
Für alle Laien, die nun gnadenloses Scheitern beim Werten fürchten, hat Dolf Keller wichtige Tipps. „Es ist für Laien nicht so sehr entscheidend, alle Details zu sehen. Wenn eine Prüfung flüssig aussieht und man das Gefühl hat, dass Pferd und Reiter gut harmonieren, dann sollte man hohe Noten geben“, sagt er. Besonders auf die harmonische Ausführung sei zu achten. Und: Da man jede Sekunde auf das Geschehen konzentriert sein müsse, biete es sich an, ein Richterduo zu bilden. „Einer schaut, einer tippt die Wertung ins Handy. So machen es die Profirichter auch, die haben Protokollanten neben sich sitzen, die die Wertungsbögen ausfüllen.“
Also dann: Schnappen Sie sich auf der Tribüne einfach Nebenfrau oder Nebenmann, und werten Sie drauflos. Wer weiß: Vielleicht wird aus einem neugierigen Versuch eine echte Passion – zumindest aber ein gewachsenes Verständnis für die anspruchsvolle Aufgabe, die die Wertungsrichter erfüllen.