Hamburg. Der St.-Pauli-Trainer liebt seinen unsicheren Beruf – gerade wegen der “besonderen“ Umstände. Was Markus Kauczinski bewegt.
Es war nur ein kurzer, scheinbarer, unbedeutender Satz, den Markus Kauczinski am späten Montagabend vergangener Woche sagte, als er nach dem 1:0-Sieg seiner Mannschaft beim MSV Duisburg gefragt wurde, wohin er denn jetzt fahre. „Ich fahre nach Hause – also nach Hamburg“, antwortete er. So selbstverständlich, wie es klingen mag, war das keineswegs. Schließlich ist der 48 Jahre alte Cheftrainer des FC St. Pauli in Gelsenkirchen, knapp 40 Kilometer von Duisburg entfernt, geboren und aufgewachsen, ehe er mit 31 Jahren nach Karlsruhe umzog.
Ein paar Tage später, als der Autor dieses Textes ihn auf diese Situation anspricht, sagt Kauczinski: „Ich habe spontan geantwortet, nicht lange darüber nachgedacht. Deshalb wird es wahrscheinlich so sein, dass ich Hamburg als Zuhause empfinde.“ Und ebendies ist für einen Trainer im Profifußball, der sich – Vertragsdauer hin oder her – seines Jobs fast nur noch von Spiel zu Spiel sicher sein kann, gar nicht so selbstverständlich. In kaum einem anderen Beruf hat man es selbst so wenig in der Hand, wie lange man an einem Ort verweilen darf.
Seit knapp einem Jahr ist Kauczinski Cheftrainer beim FC St. Pauli
„Wenn ich etwas länger darüber nachdenke, sehe ich mich immer noch ein bisschen als Badener, als Karlsruher. Mich sehen ja auch die meisten anderen als Karlsruher, obwohl ich in Gelsenkirchen geboren bin“, sagt Kauczinski.
Seit dem 7. Dezember 2017 ist der studierte Sportlehrer Kauczinski Cheftrainer beim FC St. Pauli, feiert also bald sein Einjähriges. Nach der ersten Zeit im Hotel haben Kauczinski und seine Frau Christiane eine Bleibe in Winterhude gefunden. Beide genießen das Leben, das Flair, das hier herrscht. Dazu ist der Weg zum Arbeitsplatz, zum Trainingszentrum in Niendorf, nicht allzu weit. Markus Kauczinski mischt sich unters Volk, geht spazieren und natürlich auch selbst einkaufen. In einem Laden sei er, berichtet er, schon mal darauf angesprochen worden. „Da habe ich gesagt, dass meine Bediensteten gerade frei haben“, erzählt er und muss herzlich lachen.
Draußen zu sein, an der frischen Luft, das kennt und liebt Kauczinski von Kindesbeinen an. „Ich habe den Ball hinten auf das Fahrrad geklemmt, bin herumgefahren und habe an allen möglichen Orten gekickt. Handys gab es ja noch nicht“, erzählt er über seine Jugend in Gelsenkirchen-Ückendorf. „Wenn ich diesen Stadtteil heute sehe, gibt es dort eine hohe Arbeitslosenquote, einen hohen Ausländeranteil, es ist sehr schroff dort“, sagt er. „Aber ich bin da hineingeboren worden und kannte nichts anderes. Als Kind hat man keinen Weitblick.“
Er hat eine Unternehmensberatung, da geht es auch um Führungsfragen
Fixpunkt war die Familie. „Behütet und mit sehr viel Liebe, aber auch mit viel Freiheit und langer Leine“ sei er von seinen Eltern großgezogen worden. Der Vater war Disponent bei Opel in Bochum, die Mutter Einzelhandelskauffrau. „Sie hat sich aber, wie es früher so war, erst einmal den Kindern gewidmet“, erzählt er und lässt durchblicken, dafür dankbar zu sein. „Auch mein fünf Jahre älterer Bruder hat sich um mich gekümmert, zum Beispiel zum Kicken mitgenommen. Aber klar, manchmal habe ich als kleiner Bruder auch gestört.“
Die Eltern sind mittlerweile verstorben, doch zum Bruder gibt es weiter einen regen Kontakt, in gewisser Weise sogar auf beruflicher Ebene. „Es ist heute noch so, dass er alles von mir beobachtet und auch Tipps gibt. Er hat eine Unternehmensberatung, da geht es auch um Führungsfragen, den Umgang mit Mitarbeitern und ähnliche Dinge“, erzählt Kauczinski. Das sind Themen, die neben dem rein sportlichen Aspekt ein wesentlicher Inhalt seines Berufes sind bei rund 30 Spielern und weiteren Mitarbeitern des sogenannten Funktionsteams der Zweitliga-Mannschaft des FC St. Pauli. Da ist es ein schmaler Grat, einerseits gerecht zu sein, andererseits aber die Spieler individuell zu behandeln, zu erkennen, wer verbale Streicheleinheiten und wer eher eine deutliche Ansage braucht, um im nächsten Spiel seine bestmögliche Leistung zu bringen.
Beim VfL Bochum spielte Kauczinski in der zweiten Mannschaft
Markus Kauczinski hat schon früh viele Erfahrungen in dieser Hinsicht gesammelt. Bei seinem Heimatverein Fortuna Gelsenkirchen übernahm er als Jugendlicher Traineraufgaben. „Mit 20, 21 Jahren habe ich eine A-Jugend trainiert. Die Jungs waren mit ihren 18 Jahren ja kaum jünger als ich. Da habe ich Menschen kennengelernt, die es nicht leicht hatten im Leben“, berichtet er. Diese Aufgabe habe ihn ähnlich stark geprägt wie die Erziehung durch seine Eltern. „Ich habe früh Verantwortung getragen, wobei ich sie gar nicht so gespürt habe. Vor allem aber habe ich gemerkt, dass es sich lohnt, sich mit jedem auseinanderzusetzen. In jedem steckt etwas Gutes. Ich habe erfahren, dass man ganz viel zurückbekommt, wenn man sich für jemanden einsetzt. Ich hatte eine Mannschaft, die wäre für mich durchs Feuer gegangen“, berichtet er.
Was folgte, war der Wechsel zum VfL Bochum, wo Kauczinski in der zweiten Mannschaft spielte. Statt mit aller Macht eine Karriere als Profifußballer anzustreben, ging er arbeiten, um „auf eigenen Füßen zu stehen“, wie er es formuliert. Später ging es dann zurück nach Gelsenkirchen, als Jugendtrainer beim großen FC Schalke 04. „Nach vier Jahren im Nachwuchsbereich war ich dort nicht recht weitergekommen. Ich war eben kein Ex-Profi. Das spielte damals eine viel größere Rolle als heute. Deshalb habe ich 1991 das Angebot des Karlsruher SC angenommen. Es hat mir imponiert, dass man mich dort haben wollte“, erzählt Kauczinski, der sich kurz zuvor in Gelsenkirchen eine Eigentumswohnung gekauft hatte. Dennoch bestellte er den Umzugswagen. „Knall auf Fall“ – so beschreibt er heute diese wohl wichtigste Weichenstellung in seinem Berufsleben.
Der Umzug nach Karlsruhe war prägend
Eigentlich sei es ziemlich unbedacht gewesen. „Unser Sohn Gero war erst zweieinhalb Jahre alt, und ich habe mir keine Gedanken gemacht, was das für unsere Familie bedeutet. Ich wusste nur, dass ich mit dem Trainerberuf mein Geld verdienen und meine Familie ernähren wollte“, sagt er über seine damalige Situation und Gefühlslage.
Plötzlich waren seine Frau und er allein mit dem Kleinen in einer fremden Stadt. Es war keine Familie mehr in nächster Nähe. „Dazu musste ich mich im neuen Job beweisen und neue Menschen kennenlernen“, erinnert er sich.
Im Sommer 2016 verließ Kauczinski Karlsruhe
„Durch den Wechsel nach Karlsruhe bin ich wirklich erwachsen geworden. Nach drei, vier Jahren haben meine Frau und ich festgestellt, dass uns das richtig geformt und weitergebracht hat“, stellt Kauczinski fest. Beim KSC war er zunächst Nachwuchstrainer und sprang ein paar Mal als Interimstrainer der Profimannschaft ein. Erst allmählich habe er gemerkt, dass er das auch kann. „Ich war aber nie der große Planer und habe nie gedacht: Wenn ich jetzt dies mache, kann ich in zwei Jahren jenes werden“, erzählt er. So kam es, dass er erst mit 42 Jahren den Lehrgang zum Fußballlehrer absolvierte, der Pflicht ist, um als Cheftrainer im Profifußball zu arbeiten. 2012 wurde er Trainer der KSC-Profis.
Im Sommer 2016, ein Jahr nach der so unglücklich gegen den HSV verlorenen Relegation, verließ Kauczinski auf eigenen Wunsch Karlsruhe. Der FC Ingolstadt lockte mit dem Trainerjob in der Bundesliga. „Wir wollten wieder etwas Neues kennenlernen. Meine Frau hat mich darin bestärkt und unterstützt, auch wenn klar war, dass man nicht weiß, wo der Weg endet, und es keinen Weg zurück gab. Dieses hat uns den Horizont geöffnet und zu anderen Menschen gemacht. Auch hier in Hamburg genießen wir es, sich beweisen zu müssen und sich zurechtzufinden“, sagt er.
Zehn Spieltage dauerte das Engagement in Ingolstadt
Ganze zehn Spieltage dauerte das Engagement in Ingolstadt – ohne Sieg. Kauczinski lernte die negative Seite seines Berufes hautnah kennen, er musste gehen, ehe er richtig angekommen war. Abgeschreckt hat ihn dieses Erlebnis nicht. „Es entspricht mir total, dass ich keinen wirklich sicheren Beruf ausübe. Ich habe mich nach der Trennung in Ingolstadt gefragt, ob es das ist, was mich glücklich macht. In der Analyse bin ich zu dem Schluss gekommen, dass mir dieser Beruf am meisten entspricht. Ich mag es, nicht zu wissen, was der nächste Tag, die nächsten Wochen und Monate bringen. Viele Freunde, mit denen ich darüber spreche, haben davor einen Horror“, berichtet er.
Doch wie lebt man damit, dass fast jederzeit die Trennung droht, obwohl man nur begrenzt Einfluss auf die Leistungen seiner Spieler hat? „Damit muss man seinen Frieden machen. Wenn mich dieser Job kaputt macht und ich nicht in den Schlaf finde, wenn mich das so bedrückt, dass ich keine Freude mehr empfinden kann, dann muss man damit aufhören“, sagt Kauczinski dazu.
Im Moment läuft es mit St. Pauli ordentlich
Und wie lange möchte er, der ganz langsam auf die 50 zugeht, noch Trainer sein? „Ich kann mir auch vorstellen, zum Beispiel irgendwo ein kleines Café aufzumachen, am Rande der Welt zu sitzen und die Sonne untergehen zu sehen. Aber dafür ist jetzt nicht die Zeit. Es gibt noch so viel zu erleben, so viele Abenteuer. Ich habe als Trainer noch einen Weg vor mir. Darauf habe ich Lust“, sagt er. Im Moment läuft es mit St. Pauli ja auch ordentlich. Viel spricht also dafür, dass Kauczinski noch länger Hamburg meint, wenn er von „zu Hause“ spricht.