Der Chefredakteur des Tennismagazins quälte sich ins Ziel. Dabei begann alles besser als erwartet. Ein Erfahrungsbericht.
Hamburg. Der Rücken schmerzt im Lendenbereich, die Beine brennen. Auch sechs Stunden nach dem Rennen streikt der Körper. Die heiße Dusche und Wärmekissen bringen Linderung, die Spaghetti Bolognese danach ist auch schon intus. Ganz zu schweigen von Flüssigkeit ohne Ende. Nur vom Wein, den meine Frau mir anbietet, als ich diese Zeilen schreibe, nehme ich Abstand. Heute kein Alkohol heißt die Devise. Die, die jetzt rufen „Weichei“, müssen nicht weiterlesen. Oder die, die komplett entspannt mit einem 40er-Schnitt über die Piste fliegen. Obwohl sie ja Recht haben – Weichei. Ich hätte mir auch nicht träumen lassen, dass ich einen Lift brauche, um ins Bett zu kommen.
Die Idee, an den 23. Hamburger Cyclassics teilzunehmen, entstand im Februar auf einer Geburtstagsfeier einer Freundin in Detmold. Zusammen mit zwei alten Klassenkameraden – wir alle Jahrgang 66, 67 – sollte der 19. August unsere persönliche Tour de France werden. Allerdings nicht über die volle Distanz, 100 Kilometer sollten reichen. Wobei es am Ende etwa 110 waren. Aber dazu später mehr. Und auch mehr dazu, dass aus dem Trio ein Duo wurde, allerdings ohne ostwestfälische Beteiligung.
Ich – Typ Hobbysportler, zwei- bis dreimal die Woche Feierabendläufer, etwas weniger häufig Radfahrer, Tennisspieler, jährlicher Sportabzeichenabsolvent –wollte den Kick nach dem Sommerurlaub. Zweimal zuvor bin ich den Hamburger Radklassiker mitgefahren: einmal über die 100 Kilometer per Trekkingrad mit Achtgang-Nabenschaltung, letztes Jahr ebenfalls mit Trekking-Bike und mehr Gängen über die 60er-Runde.
Mit dem Wunder-Bike bei den Cyclassics
Diesmal sollte das Material top sein. War es auch. Keine Mühle, sondern Flitzer. Carbonrahmen. Sechs, sieben Kilogramm schwer, das ganze Ding. Edelste Profi-Marke – Cervélo. Dimension Data-Fahrer Mark Cavendish fährt auf so etwas. Während der Roubaix-Etappe bei der Tour der France postete er via Instagram: „Das Rad war ein absoluter Traum auf den Kopfsteinpflastern. Komfortabel und steif genug beim Sprint.“
Mein Modell: R3 Dura-Ace 9100 mit Spezifikationen, bei denen Freaks mit der Zunge schnalzen. Ein Freund, für den die technische Ausstattung keine böhmischen Dörfer sind wie für mich, schrieb: „Das ist ein super Rahmen! Wow! Die Dura-Ace-Gruppe von Shimano ist letzter Stand der Technik. Es ist die mechanische Gruppe, halt nicht elektrisch. Aber das wäre dann doch zu viel verlangt und Jammern auf hohem Niveau.“
Mitte Juli bekomme ich das Wunder-Bike geliefert. Als Leihgabe. Ein bisschen Zeit bleibt, um sich einzufahren, um sich vorzubereiten. Wobei: Für mehr als ein paar 40-Kilometer-Touren reicht es nicht. Das Fahrgefühl: super. So viel Laune hat Radfahren noch nie gemacht. In jedem Fall schlägt der Fahrspaß auf der Dura-Ace-Maschine meinen zwischendurch eingeschobenen Harz-Trip auf dem Mountainbike um Längen.
Persönliche Anfeuerung gibt den Extra-Kick
Zum Hier und Jetzt: Sonntag, 19. August, 8.30 Uhr Außenalster, Startblock I. Die Startnummer 24221 hängt mit Sicherheitsnadeln an meinem Rücken. Räder ohne Ende. Eine Stadt im Fahrradfieber. Die ersten Blöcke sind schon gestartet. Insgesamt 18.000 sogenannte Jedermann-Fahrer gehen auf die Strecke. Promis wie Ingo Zamperoni und Normalos wie ich. Dazu kommen die Profis. Wow – wer bei diesem Meer von Helmen, Trikots, Rädern nicht das Gefühl bekommt, bei etwas ganz Besonderem dabei zu sein, dem ist nicht zu helfen. Das Surren der Zahnräder wird zum Soundtrack meines Morgens.
Tausende Radsportler fahren durch Hamburg
Wir rollen los. Die ersten Kilometer in den Hamburger Nordosten. Sich orientieren, kleine Gänge pedalieren, nichts riskieren. Die ersten rund 25 Kilometer bis Ahrensburg sind eine Spazierfahrt. Das Tempo: schön hoch, auf geraden Strecken oft über 40 km/h. Scheinbar mühelos. Es läuft. Hoisdorf, Lütjensee, Grönwohld – all die Orte, die ich von meinen Touren im Kreis Stormarn kenne. Die Verpflegungsstation bei Kilometer 57 lasse ich aus. Ich fühle mich gut gerüstet, mit zwei Trinkflaschen, zwei Powerriegeln und Gel. Bei Kilometer 80 passiere ich mein Haus in Neuschönningstedt. Die persönliche Anfeuerung gibt noch einmal den Extra-Kick.
Dann breche ich ein. Mein Mitfahrer, Rad- und Laufkumpel aus Reinbek-Ohe, muss immer öfter warten. Ursprünglich dachten wir, dass ich ihn ziehe, weil ich – mit Verlaub – das bessere Rad habe, aber jetzt bin ich nur Zweiter.
Krämpfe kommen auf
Straßenradrennfahren ist ein Phänomen. Manchmal fühlt man sich, als würde man über den Asphalt fliegen. Alles geht mühelos. Dann steht man wie ein Anhalter, den keiner mitnehmen will. Bei mir sind es muskuläre Probleme. Es beginnt leicht zu krampfen. Rechter und linker Oberschenkel, die Wade. Was habe ich falsch gemacht? War das Tempo zu hoch?
Bis Kilometer 80 lag ich deutlich über dem angepeilten 33er-Schnitt. Genug zu mir genommen hatte ich, um dem Ast vorzubeugen. Wahrscheinlich habe ich zu viel Energie bei der Führungsarbeit gelassen, wollte immer an die nächste Gruppe heranfahren, um dann auf den nächsten Zug aufzuspringen. Okay, die Vorbereitung war am Ende nicht optimal, eine Ohrenentzündung warf mich für ein paar Tage aus der Bahn.
Aber hey, keine Ausreden: „Quäl’ Dich, du Sau“, soufflierte ich mir in Anlehnung an den legendären Spruch, mit dem Udo Bölts 1997 den späteren Tour-Sieger Jan Ullrich anschrie. Die B5, hinein in die Hansestadt, zieht sich wie einer dieser klebrigen Riegel in meiner Gesäßtasche. Der Minihügel vor der Brücke am Berliner Tor, eigentlich ein Witz, wird zur Eiger-Nordwand. Noch ein paar Kilometer. Durchhalten. Jetzt nicht anhalten. Du kommst nie wieder aufs Rad, sage ich mir.
Erfahrung schreit nach einem Comeback
Ich rolle durchs Ziel. Die Massen an der Strecke in der Mönckebergstraße nehme ich kaum war. Ich steige ab, kann mich kaum bewegen. Ein gutes Gefühl, die Cyclassics 2018 geschafft zu haben? In diesem Moment nicht. Nur Leere. Es dauert rund eineinhalb Stunden, bis ich mich halbwegs regeneriert, drei, vier Becher Erdinger alkoholfrei runtergekippt habe und den Heimweg antreten kann.
Unter dem Strich bleibt: Ich hatte keinen Unfall, ich sah nur mehr Blaulichter als bei den letzten Starts. Ich hatte rund 80 Kilometer Fahrspaß. Am Ende bin ich eingebrochen, aber das ist auch Profis schon passiert.
Um 18:28 Uhr kommt die SMS vom Veranstalter: „STEVENS Bikes gratuliert Dir zu einer Zeit von 3:27’41, AK-Wertung: 1471. Platz, Gesamtrang: 4722. Platz.“ Dabei sein ist alles! Ich komme wieder.
Stormarner feiern ihre Cyclassics-Premiere