Hamburg. Sportler Lars Wichert verletzte sich Ende Mai schwer. Nun startet er bei der Europameisterschaft in Glasgow.
Die Gedanken daran, wie wenig gefehlt hat, dass er jetzt querschnittsgelähmt sein könnte oder sogar tot, hat Lars Wichert verdrängt. Sie belasten ihn nicht, er hat sie abgehakt unter dem Motto: Glück gehabt! Leistungssportler lernen das, sie müssen so umgehen mit Rückschlägen und Komplikationen, um im Hamsterrad, das sich auf der Hatz nach dem nächsten Erfolg unerbittlich weiterdreht, nicht die Balance zu verlieren. Und so freut sich der 31 Jahre alte Ruderer anstelle dunkler Gedanken auf den Saisonhöhepunkt, der für ihn an diesem Donnerstag (13.12 Uhr MESZ) bei den European Championships im schottischen Glasgow mit dem Vorlauf im Leichtgewichts-Einer beginnt.
Dass der in Berlin geborene und für den Hamburger Ruderclub Allemannia startende Athlet bei dem Multisportevent, bei dem die Sportarten Rudern, Leichtathletik, Schwimmen, Turnen, Golf, Triathlon und Rad ihre kontinentalen Titelkämpfe bündeln (siehe Text links), für Deutschland starten kann, ist keine Selbstverständlichkeit. Gut zwei Monate ist es her, dass Wichert mit einem Schädelbruch im Krankenhaus lag. Bei einer Trainingseinheit in den Harburger Bergen war der passionierte Mountainbiker, der im vergangenen Jahr beim Etappenrennen Cape Epic in Südafrika gestartet war, vom Rad gestürzt, als bei einer schnellen Abfahrt ein Ast seinen Lenker streifte. „Durch die hohe Geschwindigkeit brach mein Vorderrad bei der Querstellung, und ich bin mit Seemannsköpper über den Lenker geflogen“, sagt er.
Nach einer Woche wieder im Trainingsboot
Zwar trug der Student der Gesundheitsforschung einen Helm, doch durch die schwere Überstreckung des Nacken- und Wirbelsäulenbereichs, die der Sturz auf den Kopf verursachte, wurde an der Innenseite des Schädelknochens ein Stück abgesprengt. „Zum Glück konnte ich Arme und Beine bewegen“, sagt Wichert, der allein unterwegs war und über sein Mobiltelefon seine Freundin erreichte, die einen Abholdienst organisierte. Im Krankenhaus wurde schließlich festgestellt, dass Bänder und Wirbelkörper keine schweren Schäden genommen hatten. „Die Ärzte haben mir gesagt, dass ich riesiges Glück hatte und zudem meine sehr gute physische Grundform geholfen hat, die Folgen des Sturzes abzuschwächen. Ich hätte mir ganz leicht das Genick brechen können“, sagt er.
Statt im Rollstuhl saß Wichert, der im vergangenen Jahr die EM wegen der Geburt seines Sohnes Jonte Piet verpasst hatte, schon eine Woche nach dem Unfall wieder im Trainingsboot. Mountainbike ist er noch nicht wieder gefahren, will dies aber nachholen, wenn die Acht-Wochen-Frist, die ihm die Ärzte zur Schonung auferlegt hatten, abgelaufen ist. Rudern sei für den geschädigten Schädel-Nacken-Bereich keine Beeinträchtigung. „Im Alltag ist es schwieriger, weil gerade die Nackenmuskulatur anders beansprucht wird. Nach langem Liegen oder Schlafen spüre ich zum Beispiel eine Steifheit im Nacken“, sagt er.
Vorbereitung kaum beeinflusst
Die Vorbereitung auf die EM hat der Unfall kaum beeinflusst. Wichert verpasste lediglich den Weltcup-Auftakt Anfang Juni, für den er – angesichts eines schwachen Saisonstarts mit Rang vier im leichten Einer (Gewichtslimit 72,5 Kilogramm) bei den deutschen Meisterschaften – im Zweier mit dem Würzburger Konstantin Steinhübel eingeplant war. Weil das Duo beim zweiten Weltcup in Linz mit Rang zwölf enttäuschte, entschied Bundestrainer Ralf Holtmeyer, Wichert, der bei der WM 2017 in Sarasota (USA) im Einer Rang fünf belegt hatte, eine neue Chance zu geben.
Der Hamburger nutzte sie beim Weltcup in Luzern mit Rang drei und tankte dort Selbstbewusstsein für den Start in Glasgow. Dieser ist auch deshalb möglich, weil der deutsche Meister Jason Osborne aus Mainz zugunsten der WM im bulgarischen Plovdiv Mitte September auf die Europameisterschaft verzichtet. Bei internationalen Titelkämpfen ist in jeder Bootsklasse nur ein Starter pro Nation zugelassen.
Lars Wichert erlebt in Schottland seine erste EM im leichten Einer. Erst nach den Olympischen Spielen 2016 in Rio, wo er im leichten Vierer ohne Steuermann saß, war er vom Riemenbereich (Rudern mit beiden Händen an einem Ruder) zu den Skullern (je ein Ruder pro Hand) gewechselt, wo er seine Karriere begonnen hatte. „Die Umstellung auf den neuen Schlagrhythmus ist mir gar nicht schwergefallen, weil ich es von früher kannte“, sagt er.
Hoffnung auf eine Medaille
Auch wenn die Favoriten andere sind, der Schweizer Michael Schmid beispielsweise oder Martino Goretti aus Italien – Hoffnung auf eine Medaille hegt Wichert angesichts seines fünften WM-Rangs durchaus. „Das wäre das Optimum“, sagt er, „und es würde einen Kreis schließen, denn auf der Strecke in Glasgow habe ich 2007 meinen ersten großen internationalen Wettkampf erlebt.“ Mit dem leichten Doppelvierer wurde er damals Sechster der U-23-WM.
Sein Ehrgeiz ist ungebrochen, aber der Bruch des Schädelknochens hat Lars Wichert gezeigt, dass im Leben die beste Planung vom Schicksal durcheinandergeworfen werden kann. Und dass es wahrlich Wichtigeres gibt als Medaillen.
Der Deutschland-Achter mit Torben Johannesen (RC Favorite Hammonia) trifft im Vorlauf (heute/14.10 Uhr MEZ) auf Italien und Rumänien.