Hamburg. Nach dem Freitod seines Trainingspartners kämpft Ruderer Lars Wichert bei ungewöhnlichen Events gegen die Krankheit.
Alles war vorbereitet. Die Bewerbung, als Duo beim härtesten Mountainbikerennen der Welt anzutreten, war eingereicht, und Lars Wichert freute sich darauf, mit seinem früheren Ruderkollegen Yannic Corinth neue Grenzen auszutesten. Seit sein ehemaliger Zweier-Partner 2013 das Rudern aufgegeben und sich stattdessen im Straßenradsport zum Semiprofi hochgearbeitet hatte, war ein Start beim Cape Epic in Südafrika Dauerthema in den regelmäßigen Telefonaten gewesen. „Ich hatte aber neben Studium und Rudern kaum Zeit, sodass wir uns darauf verständigten, dass wir uns für das Jahr nach den Olympischen Spielen in Rio bewerben würden“, sagt Wichert.
Als im Oktober 2016 die Zusage für einen Platz im 650 Teams starken Teilnehmerfeld kam, war Yannic Corinth allerdings nicht mehr da, um sich mit Wichert zu freuen. Am 6. Juni war der 26-Jährige in seiner Heimat Friedrichstadt aus dem Leben geschieden, mutmaßlich unter dem Eindruck einer schweren Depression. Für die Familie, für Wichert, vor allem aber für Philipp Birkner, der mit Yannic Corinth in Freiburg studiert und zusammengewohnt hatte, war die Nachricht ein schlimmer Schock, weil niemand bemerkt hatte, wie schlecht es Yannic ging. „Dass er so einen Schritt in Erwägung ziehen würde, hätte ich niemals gedacht. Ich war wie erstarrt, als ich es hörte“, sagt Wichert.
Knifflige Anfrage
Der 30-Jährige, der für den RC Allemannia rudert, ist ein lebensfroher, optimistischer Mensch, der mit dem Tod in seinem Leben nur einmal konfrontiert wurde, als sein Großvater starb. „Das verarbeitet man aber anders als den Freitod eines Freundes im gleichen Alter“, sagt er. Als die Startzusage für Südafrika kam, war ihm schnell klar, „dass ich im Sinne von Yannic teilnehmen muss“.
Also fragte er Birkner, der wie Corinth 2013 aus dem Rudern ausgeschieden war und sich dem Triathlon zugewandt hatte, ob er sich vorstellen könne, anstelle des verstorbenen Freundes anzutreten. Eine knifflige Anfrage; neben den körperlichen Strapazen muss jeder Teilnehmer 2500 Euro Meldegebühr sowie die Kosten für Anreise, Unterbringung im Zelt und Verpflegung stemmen. 4000 Euro pro Person kamen so zusammen, immerhin stellte die Firma Cube die Fahrräder kostenfrei zur Verfügung.
Ausgesprochen gute Grundkondition
Nach einer Woche Bedenkzeit sagte Birkner zu, und so traten die beiden im März dieses Jahres unter dem Teamnamen „Wir für Yannic“ in Südafrika in die Pedalen. Ihre ausgesprochen gute Grundkondition war entscheidend dafür, dass sie nach acht Etappen über 695 Kilometer und 15.400 Höhenmeter unter den rund 530 Teams, die das Ziel erreichten, immerhin den 98. Rang belegten. Lars Wichert hatte sich mit Rudern und Mountainbikefahren in den Harburger Bergen vorbereitet, Partner Birkner auf dem Rennrad und mit Skilanglauf im Schwarzwald. „Hätten wir nicht auf der letzten Etappe wegen eines Achsenbruchs mehr als zwei Stunden Zeit verloren, wären wir sogar unter den Top 50 gelandet“, sagt Wichert.
Platzierung war nachrangig
Letztlich jedoch sei die Platzierung nachrangig gewesen. „Für uns war es vielmehr eine unglaublich intensive Erfahrung, als Team im Sinne von Yannic so eine Leistung abzurufen“, sagt er. Nach der ersten Etappe, die bei 45 Grad Hitze über 105 Kilometer führte, seien sie von Krämpfen und Selbstzweifeln geplagt gewesen. Sogar Aufhören war kurzzeitig eine Option. „Doch uns war klar, dass wir für Yannic das Ziel erreichen mussten. Es war eine Art aktive Trauerbewältigung.“
Um die Erinnerung an den einstigen Teamkameraden am Leben zu halten, aber vor allem, um die Krankheit Depression tiefer im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern, soll die Plackerei am Kap nicht das letzte Event gewesen sein. Im Gegenteil: Unter dem Namen „Wir für Yannic“ haben Wichert und Birkner einen Verein (Info: www.wirfueryannic.de) gegründet, der mittlerweile bereits rund 200 Mitglieder hat – und zwei Hauptziele.
„Zum einen wollen wir unter Leistungssportlern Aufklärung leisten und Gespräche anbieten“, sagt Wichert, der Interessierten zum Beispiel die Lektüre des Buches „Depressionen im Sport“ von Professor Frank Schneider empfiehlt. Zum anderen werden von den Mitgliedsbeiträgen – mindestens 25 Euro pro Jahr, Schüler und Studenten sind kostenfrei dabei – Startgebühren finanziert, um Vereinsteams bei diversen Events antreten lassen zu können.
So will eine Gruppe Ende Juli beim Arlberg-Giro, einem Eintagesrennen in den österreichischen Alpen, angreifen, das Yannic 2015 in Bestzeit gewonnen hatte. Starts beim Rucksacklauf, einem Skilanglaufrennen im Schwarzwald, dem Ironman in Roth und beim Fari-Cup der Ruderer in Hamburg sind ebenfalls angedacht. Und Wichert und Birkner können sich mittlerweile sogar vorstellen, noch einmal den Cape Epic zu absolvieren.
Tabus brechen
„Unser Ziel ist es, dass alle Vereinsmitglieder über Depressionen Bescheid wissen und helfen können, die Tabus zu brechen, die noch immer an dem Thema haften“, sagt Lars Wichert. Er selbst habe durch die intensive Beschäftigung seinen Horizont erweitert und den Blick geschärft. Auch auf das, was in seinem Leben wichtig ist. Deshalb will er im kommenden Jahr sein Studium der Gesundheitsforschung abschließen, sich um seinen Sohn Jonte Piet kümmern, wegen dessen Geburt er die Europameisterschaft in Tschechien am vorvergangenen Wochenende versäumte.
Und er möchte im Leichtgewichts-Einer bei der Weltmeisterschaft Ende September in Sarasota (US-Bundesstaat Florida) erfolgreich sein. Seit sieben Jahren hat er nicht mehr als Solist angegriffen, die Weltcups im polnischen Posen (16. bis 18. Juni) und in Luzern (Schweiz/7. bis 9. Juli) sollen eine Standortbestimmung bringen. „Ich freue mich auf die Herausforderung“, sagt Lars Wichert.
Mit dem im Rücken, was er in den vergangenen Monaten erlebt hat, wirkt sie auch gar nicht mehr so groß.