Dortmund. Patrick Ittrich ist Hamburgs einziger Bundesliga-Schiedsrichter. Wir haben ihn einen Tag lang begleitet.
Um 15.47 Uhr herrscht Unruhe in der Schiedsrichterkabine in den Katakomben des Dortmunder Stadions. „Das kann doch nicht wahr sein“, sagt Patrick Ittrich und sucht den Blickkontakt zu seinen Assistenten. Jürgen Jansen, der vom DFB bestellte Schiedsrichter-Beobachter, weiß auch keinen Rat. Schweigen.
Zwei Stunden und 20 Minuten zuvor war Ittrich mit seinem Team unter den Blicken von 81.360 Zuschauern auf den Rasen des größten deutschen Fußballstadions gelaufen – Arbeitsbeginn des Hamburger Schiedsrichter-Gespanns. Doch die Arbeit begann natürlich schon viel früher.
„Mittwoch, 7. März, 10.17 Uhr“ steht auf dem Eingangsordner in Patrick Ittrichs E-Mail-Account. Die Nachricht kommt aus der DFB-Zentrale in Frankfurt. Ittrich wird „vorläufig“ informiert, dass er am 18. März als Schiedsrichter in der Bundesliga angesetzt ist. Details erfährt er erst in einem Telefonat: Borussia Dortmund gegen Hannover 96, Anpfiff um 13.30 Uhr am Sonntag im Signal-Iduna-Park. Immer noch vorläufig. Aber der 39-Jährige ist zufrieden: Tolles Stadion, keine allzu lange Anreise, am nicht allzu späten Abend wird er wieder zu Hause sein.
75.000 Schiedsrichter in Deutschland
Er telefoniert mit seinen Assistenten Norbert Grudzinski und Sascha Thielert, bespricht An- und Abreise und redet über das Hinspiel, das sie auch geleitet haben. Doch das ist ein Zufall. Die endgültige Ansetzung kommt erneut per E-Mail, drei Tage vor dem Spiel. Erst kurz darauf erfahren die Vereine und die Öffentlichkeit davon; niemand soll Gelegenheit für Beeinflussungen haben.
Knapp 75.000 Fußball-Schiedsrichter gibt es in Deutschland, 150 gehören zum „Elite-Bereich“ des DFB für die ersten drei Ligen, nur 24 pfeifen in der Bundesliga. Ob Kreisliga C oder Champions League, ohne sie gäbe es diesen Sport nicht. Sie erhalten selten Lob, aber reichlich Kritik. Oft unter der Gürtellinie. Niemand jubelt ihnen zu. Wenn nach dem Spiel keiner über sie redet, haben sie alles richtig gemacht. Schiedsrichter sind spezielle Charaktere. Sie müssen es auch sein.
21 Stunden und 50 Minuten vor dem Anpfiff steht Ittrich mit seinem Rollkoffer auf Gleis 14 des Hamburger Hauptbahnhofs. Offiziell ist es ein Grad unter null, aber was nützt das schon bei diesem arktischen Wind? Eine Minute später kommt Grudzinski, verabschiedet seine Freundin und freut sich. An diesem Tag sind schon Dutzende Züge ausgefallen, es stürmt heftig, Oberleitungsschaden in Altona. Aber der IC 2029 nach Dortmund soll in fünf Minuten, um 15.46 Uhr, einfahren – auf der Anzeigetafel steht nichts von Verspätung.
Daran wird sich in den nächsten 15 Minuten auch nichts ändern. Der Bahnsteig wird immer voller, die Bahnmitarbeiter wissen genauso wenig wie die Bahnfahrer. Der Zug verschwindet von der Anzeige, taucht wieder auf – mit „ca 45 Minuten Verspätung“. Ittrich informiert am Telefon Sascha Thielert – der wohnt in Buchholz und will in Bremen zusteigen. Die beiden Schiedsrichter beschließen, sich in der Wandelhalle aufzuwärmen. In einer Bar läuft Fußball, HSV gegen Hertha, es steht 1:0.
Ittrich war ein talentierter Fußballer
Patrick Ittrich, Jahrgang 1979, war ein talentierter Fußballer. Mit fünf ist der Sohn einer Polin und eines deutschen Spätaussiedlers in den Mümmelmannsberger SV eingetreten, Mitglied ist er bis heute. Mit 13 zeigt der HSV Interesse, doch die Eltern wollen nicht, dass ihr einziges Kind dreimal die Woche durch die ganze Stadt fährt, um zu trainieren. Mit 17 spielt er schon bei den Herren, dann reißt sein linkes Kreuzband. Zweimal hintereinander. Wenn er ernsthaft von einer Fußballerkarriere geträumt hatte, tut er es jetzt, mit 19, nicht mehr.
Um 16.20 Uhr geht es zurück auf Gleis 14. Aus 45 Minuten Verspätung sind 60 geworden. „Das können wir vergessen“, sagt Ittrich. „Wollen wir ein Auto mieten?“ Oder nach Hannover und dann umsteigen? Grudzinski, die Ruhe selbst, verschwindet. Er ist seit 19 Jahren DFB-Schiedsrichter, hartgesottener Bahnfahrer und kehrt mit Insider-Informationen zurück: Der Zug kommt. Demnächst. 73 Minuten Verspätung sind es schließlich, als sie endlich sitzen. Eine Stunde später, in Bremen, steigt Sascha Thielert zu. Abklatschen, Männerumarmung.
Die drei arbeiten erst seit dieser Saison zusammen, aber sie kennen sich seit 20 Jahren, weil sie alle für den Hamburger Fußball-Verband pfeifen. Die anderen Teams in der Bundesliga sind geografisch bunt zusammengewürfelt. Über das Spiel am nächsten Tag reden sie wenig. Die Hausaufgaben haben alle ohnehin längst erledigt. Jeder auf seine Weise. Thielert etwa will gar nicht wissen, wer wie viele Gelbe Karten hat und wem eine Sperre droht. „Ich will völlig unvoreingenommen sein.“ Grudzinski sieht das anders; Informationen stünden seiner Neutralität ja nicht im Wege.
"Sportstudio" ist Pflichtprogramm
Ittrichs Woche war kilometerträchtig. Montag Rückkehr aus dem Kurzurlaub mit seiner Frau und den vier Töchtern. Zweimal täglich hat er auf Mallorca trainiert. Dienstag zur Arbeit – er ist Verkehrslehrer bei der Polizei. Mittwoch Abreise nach Pilsen, wo er als „Additional Assistent Referee“, ein Zusatzschiedsrichter hinter dem Tor, in der Europa League im Einsatz war. Freitag Rückreise. Sonnabend wieder Abreise.
Drei Minuten vor acht und 17,5 Stunden vor Anpfiff kommt der IC in Dortmund an. Sie steigen ins Taxi, knapp 20 Minuten dauert die Fahrt ins l’Arrivée, ein Vier-Sterne-Hotel, das der DFB gebucht hat und in dem auch die Dortmunder Mannschaft vor ihren Spielen absteigt. Ein paar Meter weiter hatte Sergej W. am 11. April 2017 den Bombenanschlag auf den BVB-Bus verübt. Einchecken, Koffer hochbringen und wieder unten sein dauert zehn Minuten, dann geht es weiter ins Overkamp.
In dem gutbürgerlichen Restaurant sind sie mit Ulrich Schneider und seiner Frau Svenja verabredet. Der Arzt aus Dortmund checkt alle DFB-Schiedsrichter jeden Sommer gründlich durch – ohne sein Okay darf niemand ein Spiel leiten. Außerdem ist er Ombudsmann für die DFB-Schiedsrichter und so etwas wie ein Freund. Es wird ein anekdotenreicher, aber kein langer Abend. Um 22.30 Uhr geht es wieder ins Hotel, jeder verschwindet auf seinem Zimmer. Das „Sportstudio“ ist jetzt Pflichtprogramm: Sie müssen wissen, ob an diesem Bundesliga-Sonnabend irgendetwas Besonderes passiert ist.
Die Anfänge der Schiedsrichter-Karriere
1994 ist Patrick Ittrich 15 Jahre alt und wird überredet. So wie eigentlich alle. Fast niemand geht zu seinem Fußball-Abteilungsleiter und sagt: Ich möchte einen Schiedsrichterschein machen. Der erste ist schnell und einfach zu haben, das dauert nur ein Wochenende. Das Premierenspiel ist meistens G- oder F-Jugend, Fünf- bis Achtjährige. Spielende Kinder mit schreienden Eltern draußen. Ein Jahr später pfeift Ittrich schon bei den Erwachsenen. „Ich habe schnell gemerkt, dass ich das ganz gut kann“, sagt Ittrich. „Und dass es Spaß macht.“ Er entscheidet gern. Und kann es schnell tun. Schiedsrichter sind Mangelware, immer und überall. Da gibt es kein Talent, das übersehen wird. Ittrichs Förderer heißt Uwe Albert, ist Obmann im Bezirks-Schiedsrichter-Ausschuss Hamburg-Ost. Der schickt ihn auf immer umfangreichere Lehrgänge, Ittrich wird beobachtet und für gut befunden, kommt höher. Schnell. Mit 21 ist er in der damaligen Oberliga Hamburg/Schleswig-Holstein angekommen. 4. Liga. „Ich habe Ehrgeiz entwickelt“, sagt Ittrich. „Aber von der Bundesliga habe ich da noch nicht geträumt.“ Er bewirbt sich bei der Polizei, im August 2000 beginnt er als Anwärter seine zweite Ausbildung. Gelernt hatte er Industriemechaniker.
Noch viereinhalb Stunden bis zum Spiel. Ittrich ist um 9 Uhr der Erste im Frühstücksraum. Am Obstbüfett spricht ihn ein Mann Mitte 40 an. Er sei doch der Schiedsrichter, gleich beim Spiel, und sein achtjähriger Sohn, der Dortmund-Fan … Der Kleine bekommt natürlich sein Foto mit dem Schiri. Patrick Ittrich ist ein kinderlieber Mann. Sonst würde er ihnen nicht 25 Stunden pro Woche beibringen, wie sie sicher eine Straße überqueren. Sascha Thielert kommt ans Büfett.
„Hast du schon die Leberwurst gefunden?“ Insidergag. Ein Bundesliga-Schiedsrichter hat Thielert mal einen Vortrag gehalten, wie ungesund Leberwurst doch sei – er aß sie trotzdem, das Spiel lief prima, die Leberwurst blieb. Jetzt kommen Norbert Grudzinski und Timo Gerach, der heute der „4. Offizielle“ ist. Es wird geflachst, Anspannung ginge anders. Aber vor allem ist für Langeweile keine Zeit. Nicht so wie bei einem Abendspiel. Auch da reisen sie am Vortag an. Und haben viel Zeit – manchmal an Orten mit sehr überschaubarer Abwechslung.
In der Kabine wartet der Physiotherapeut
Peter Henes wartet um 10.50 Uhr in der Lobby. Vor acht Jahren hat er die Pfeife abgegeben, mit 47 gehen Bundesliga-Referees in Zwangsrente. Jetzt ist er Schiedsrichter-Betreuer bei Borussia Dortmund und damit auch Chauffeur. Man kennt sich. Henes erzählt, dass er am Vortag als Schiedsrichter-Beobachter in der B-Junioren-Bundesliga im Einsatz war. „War ein schweres Spiel“, sagt er – und alle schmunzeln. Schiedsrichter werden immer beobachtet und bewertet. Und es gibt eine Grundnote, fast wie beim Turmspringen. Je nachdem, ob ein Spiel „normal“, „schwierig“ oder „sehr schwierig“ zu leiten ist, fällt diese Ausgangsnote entsprechend höher aus. Peter Henes ist berühmt dafür, dass es eigentlich nur schwere Spiele gibt.
Um 11.19 Uhr hält der schwarze Mercedes-Kleinbus vor dem Haupteingang zum altehrwürdigen Stadion Rote Erde. Und damit fünf Meter vor dem Eingang zur Osttribüne des Signal-Iduna-Parks. In zwei Stunden und elf Minuten wird angepfiffen, die vier Schiedsrichter gehen direkt in ihre Kabine. Dort, ganz am Ende des langen Ganges im Gästetrakt, wartet schon der Physiotherapeut. In der silbernen Isokanne ist Kaffee, im Kühlschrank steht Wasser und alles, was auch ohne Alkohol schäumt oder prickelt. Es sind eigentlich vier kleine Räume: für die Massagebank, den Tisch zum Essen vor dem Fernseher, die eigentliche Umkleidekabine und die Duschen. Das ist für Bundesliga-Verhältnisse fast bescheiden.
Manche Referees tragen kein Blau in Dortmund
Borussia Dortmund spielt wie immer zu Hause in Gelb, Hannover trägt grüne Trikots. Damit bleiben für die Schiedsrichter Rot, Blau und Schwarz als mögliche Farben. Es gibt Kollegen, die in Dortmund kein Blau tragen, weil das die Fans an den Erzrivalen Schalke erinnern könnte. Thielert mag die Farbe einfach nicht, heute werden sie ganz klassisch in Schwarz auflaufen.
Unterhaching gegen Bielefeld, 24. August 2003. Ittrich trägt zum ersten Mal das DFB-Wappen auf seiner Brust, er ist Assistent von Matthias Anklam in der 2. Liga. „Unfassbar schnell“ ist das Spiel, erinnert er sich. Es läuft gut, Topnoten für die Schiedsrichter. Ittrich pfeift selbst in der 3. Liga, assistiert in der 2. Einmal vergisst er seine Schuhe, der Zeugwart von 1860 München leiht ihm welche. Weil die von Nike sind, der DFB aber einen Adidas-Vertrag hat, klebt er das Emblem ab. Ittrich ist schnell hochgekommen – zu schnell, wie er heute sagt. Seine Noten werden schlechter, er steigt ab. Bleibt zwar Assi im Profifußball, pfeift selbst aber nur in der 4. Liga. „Doch mein Ehrgeiz war ungebrochen, ich wollte besser werden.“ 2008 kommt er wieder in die 3. Liga; er wird Assistent von Michael Weiner in der Bundesliga und pfeift 2009 schon im Unterhaus. Die erste Saison in der 2. Liga ist grandios, Ittrich bekommt überragende Benotungen, ist in den Top drei. Am Ende der Saison steigen Tobias Welz und Christian Dingert in die Bundesliga auf. Und für Ittrich wird es schwierig.
Die Vorbereitung in den zwei Stunden vor dem Spiel beginnt technisch, wird dann körperlich und zum Schluss mental. Erst kommen die Bild- und Tonexperten: Das „Hawkeye“ wird überprüft, das ist die Technik, die im Zweifelsfall anzeigt, ob ein Ball wirklich hinter der Torlinie ist oder nicht.
Dann werden die Verbindungen gecheckt: Ittrich ist während des Spiels nicht nur mit Grudzinski und Thielert per Funk verbunden, sondern auch mit Sven Jablonski, dem Video-Schiedsrichter in Köln. Falls die eine ausfällt, gibt es eine zweite Leitung. Die meisten Fans haben sich mittlerweile an den Videobeweis gewöhnt, die Schiedsrichter haben ihn schätzen gelernt. Heute in Dortmund produziert das Fernsehen Bilder aus 18 Kameras – warum soll der Referee nicht nutzen, was die Zuschauer am TV ohnehin sehen?
Alle Spieler begrüßen ihn, mal herzlich, mal abwesend
Jetzt beginnt die Konzentrationsphase, im Kopf werden alle Abläufe abgerufen, das Trio bespricht noch einmal die Dinge, auf die es sich gleich konzentrieren muss. Auch die selbstverständlichen. „Helft mir“ ist so ein Satz, den Ittrich dann zu Thielert und Grudzinski sagt. Wenn er nach einem Foul Vorteil laufen lässt, dann sollen sich auch die Assistenten den Namen des Spielers merken, damit er später ermahnt oder verwarnt werden kann.
Dann ist Ittrichs Kopf frei, um sich auf die nächste Situation zu konzentrieren. Hilfe ist keine Einbahnstraße – wenn Ittrich aus kurzer Distanz sieht, dass bei einem Kopfballduell der Stürmer an den Ball kommt, dann wird er „Verlängert!“ ins Mikro sagen. So wissen Thielert und Grudzinski, ob gleich eine Abseitssituation entstehen kann.
Alle drei nehmen die Dienste des Physiotherapeuten in Anspruch. Meist ist es Prophylaxe, manchmal ein Wehwehchen. Dann, 30 Minuten vor Anpfiff, gehen sie raus. Den Gang entlang zur Mixed Zone, die schmale Treppe runter, rechtsrum in den engen, schmucklosen Tunnel und dann raus ins Stadion.
Vielleicht 40.000 sind jetzt auf den Rängen, die Spieler machen sich warm, und bevor die drei es ebenfalls tun, gibt es einen Plausch mit André Breitenreiter, dem Trainer von Hannover 96. Man kennt sich. Und es sieht so aus, dass man sich auch schätzt. Jeder der drei macht sein eigenes Aufwärmprogramm. Erst eher gemächlich laufen, dehnen, dann Sprints. Ein Bundesliga-Schiedsrichter läuft zwischen zehn und 12,5 Kilometer pro Spiel. Weltmeister Mario Götze wird nach dem Spiel ein Extra-Lob dafür erhalten, dass er 11,6 Kilometer zurückgelegt hat. Um 13.19 Uhr gehen die Schiedsrichter wieder in ihre Kabine. Und noch mal in sich.
Alle Schiedsrichter mit dem DFB-Wappen auf der Brust müssen einmal im Jahr ihre Fitness nachweisen. Zum Beispiel 75 Meter unter 15 Sekunden laufen. 44-mal hintereinander. Oder sechs 40-Meter-Sprints, alle unter sechs Sekunden. Sie müssen jede Woche ihr Trainingsprogramm abspulen, die Daten werden per App an den DFB übertragen und überprüft. Schiedsrichter absolvieren mindestens zwei Trainingslager pro Jahr. Die meisten trainieren jeden Tag. Ittrich arbeitet zusätzlich einmal wöchentlich mit einem Personal Trainer. Ständig gibt es Fortbildungen und Seminare. Dort lernen sie alles über Regelauslegungen, Auftreten, Laufwege. Sie lernen, Entscheidungen sofort abzuhaken, weil eine Sekunde später die nächste getroffen werden muss. Und sie lernen, alles auszublenden, was stört. Es ist unwichtig, wie oft und wie schnell Arjen Robben in Strafräumen schon umgefallen ist. Ausschließlich wichtig ist, ob er hier und jetzt gefoult wurde oder nicht.
Ittrich pfeift doch noch pünktlich an
Vor der schmalen Treppe runter zum Tunnel steht Stefan von Ameln und schaut in die beiden noch leeren Kabinentrakte. Es ist 13.24 Uhr. Es wird Zeit. Der Aufnahmeleiter von Sportcast ist verantwortlich für die TV-Produktion; jetzt nimmt er seine Trillerpfeife und bläst kräftig rein. Niemand kommt. Er tut es erneut, mit dem gleichen Ergebnis. Jetzt erscheinen Ittrich, Thielert und Grudzinski. „Wir sind zwei Minuten drüber“, sagt von Ameln, und jetzt pfeift Ittrich energisch. „Das geht alles von unserer Interviewzeit ab“, sagt ein Eurosport-Reporter zu ihm und fügt grinsend hinzu: „Pfeif mal zwei Minuten früher ab.“
Thielert macht die Tür zur Hannover-Kabine auf: „Los jetzt.“ Die Mannschaften kommen, jeder Spieler begrüßt Ittrich. Manche herzlich, manche pflichtschuldig, manche abwesend. Unten warten die aufgeregten „Einlauf-Kinder“; 25 sind es, und der Junge an Ittrichs Hand ist so klein, dass er ihn auf den Arm nimmt, damit er den Spielball vom Podest bekommt. „Mensch, war der knuffig“, sagt er später.
Ittrich pfeift doch noch pünktlich an. Und nach nicht einmal einer Minute spricht er das erste Mal mit Jablonski in Köln: Batshuayi vergibt frei vor Hannover-Torwart Tschauner eine Riesenchance – beide waren zusammengekracht. Während es den ersten Eckball gibt, schaut Jablonski, ob der Torwart den Stürmer womöglich vor dem Schuss gefoult hat. Im Stadion und am Fernseher bekommt davon niemand etwas mit. Und es gibt auch nichts zu korrigieren.
2010 beginnt die Krise. Das erste Spiel in Osnabrück läuft noch perfekt, dann werden Ittrichs Benotungen schlechter. Er ist auf dem Platz zu emotional, manchmal schreit er Spieler an. Die Souveränität geht verloren. Die ganze Saison ist mäßig. Dann wird es brutal. Am 19. November 2011. Babak Rafati, in einer Spieler-Umfrage zum „schlechtesten Schiedsrichter der Bundesliga gekürt“, unternimmt unmittelbar vor dem Spiel Köln gegen Mainz einen Selbstmordversuch. Seine Assistenten finden ihn in seinem Hotelzimmer und leisten Erste Hilfe, bis der Notarzt eintrifft. Sie retten ihm das Leben. Einer der Assistenten ist Patrick Ittrich. Natürlich braucht er Zeit, um damit klarzukommen. Natürlich macht er eine Pause. Und holt sich die Hilfe eines Psychologen. Das eigentliche Ereignis verarbeitet Ittrich relativ schnell. Doch als Schiedsrichter ist er nicht voll leistungsfähig, auch weil der Fall immer wieder thematisiert wird. Babak Rafati macht eine lange Therapie, schreibt Bücher, tritt im Fernsehen auf. Mit Ittrich hat er nie wieder gesprochen.
Ein wunderschönes Tor ist für Ittrich nur ein korrektes Tor
Das Spiel ist fair, Ittrich hat die Partie gut im Griff. Nur selten und nur zaghaft protestiert mal ein Spieler – eher pflichtbewusst als wirklich wütend. Für Norbert Grudzinski aber ist es alles andere als ein leichtes Spiel. Er läuft vor der Osttribüne auf und ab, und die Mittagssonne scheint ihm genau ins Gesicht. Für ihn gibt es mehr als eine knifflige Situation, er hat diverse Millimeterentscheidungen zu treffen, nicht nur in Abseitsfragen: Gleich dreimal lässt er das Spiel weiterlaufen, während die jeweils andere Mannschaft den Ball natürlich im Aus gesehen hat.
Doch er liegt jedes Mal richtig. Vor ein paar Jahren hat er mal bei einem internationalen Einsatz eine schlechte Note bekommen, obwohl er nicht eine falsche Entscheidung getroffen hatte. Der Rechtshänder hatte über dem Kopf die Fahne in die linke Hand genommen, um einen Einwurf anzuzeigen. Laut Fifa-Vorschrift hätte er die Hand unten wechseln müssen.
In der 24. Minute zieht Schürrle einen Eckball direkt aufs Tor, der überraschte Tschauner rettet knapp vor der Linie. Die nächste Ecke kommt in den Fünfmeterraum, wo Batshuayi ihn mit der Hacke direkt ins Tor befördert. Die Szene wird beim „Tor des Monats“ immer wieder zu sehen sein, es ist ein wunderschönes Tor. Für Ittrich ist es ein korrektes Tor. Sonst nichts. Vier Minuten später zeigt er die erste Gelbe Karte: Pirmin Schwegler hatte den Dortmunder Lukasz Piszczek umgetreten. Schwegler ist ein erfahrener Spieler, der Härte manchmal bewusst als Stilmittel wählt. Jeder Schiedsrichter weiß das. Gelb sieht er häufig, Rot nie. Auch heute hält er sich ab jetzt zurück.
2012 reißt er sich das Kreuzband
2012 wird wieder ein Seuchenjahr für Ittrich – er reißt sich das Kreuzband, diesmal im rechten Knie. Sechs Monate Zwangspause. Das erste Spiel, das er im März 2013 wieder pfeift, ist Sasel gegen Poppenbüttel. Zweimal kommt er in der 2. Liga in dieser Saison noch zum Einsatz. „Fahrig“ nennt er seine Leistung heute. Kaum ist er wieder richtig fit, kommt der nächste Schicksalsschlag: Im August 2013 stirbt seine Mutter. Sie wurde nur 57 Jahre alt. „Das waren wirklich harte Jahre“, sagt Ittrich. Seine Leistung leidet darunter. „Ich war längst in der Schublade: ein Zweitliga-Schiedsrichter, mehr nicht.“ Doch der nun 35-Jährige will sich nicht damit abfinden, es zumindest noch einmal versuchen. Er stellt alles infrage und holt sich Hilfe beim Sportpsychologen Ole Benthien. Jürgen Jansen, 13 Jahre lang Bundesliga-Schiedsrichter, wird sein Vertrauter und Mentor. „Das war harte Arbeit, ich musste gnadenlos selbstkritisch sein.“ Er will seine Emotionen besser in den Griff bekommen, souveräner sein. Er übt mit der Pfeife in der Hand vor dem Spiegel, macht endlose Videoanalysen mit seinem Coach. Die Mühen lohnen sich. Langsam.
Um 14.16 Uhr pfeift Ittrich zur Halbzeit. Niemand kommt auf ihn zu, keiner hat Redebedarf. Perfekt. Er geht mit Grudzinski und Thielert Richtung Kabine. Thielert hatte auf seiner Schattenseite eine vergleichsweise ruhige erste Halbzeit, was auch an den nur zaghaften Angriffsbemühungen der Hannoveraner lag. Thielert ist „der coolste Schiri der Liga“. Das hat er schwarz auf weiß, die „Bild“-Zeitung hat es im Februar 2017 geschrieben.
Thielert hatte beim hoch emotionalen Spiel Dortmund gegen Leipzig in der 90. Minute die Fahne gehoben – das vermeintliche Leipziger Ausgleichstor zum 1:1 galt nicht. Abseits. Alle stürmten auf ihn ein, Rudelbildung. Er blieb stoisch. Und er hatte recht. Kurz danach haben Fans den Facebook-Account „Sascha Thielert Fußballgott“ eröffnet. Da steht zwar nur Erfundenes, aber es ist lustig, nicht bösartig. 5000 „gefällt das“, Thielert lässt sie gewähren.
Strittige Szenen werden in der Halbzeit angeguckt
In der Kabine gibt es überschaubaren Redebedarf. Sie sprechen kurz über Jonathas, den 96-Stürmer. Drei kleine Fouls hat er begangen, zweimal moniert, und einmal eine klare Ansage bekommen. Der Fernseher bleibt aus. Hätte es strittige Szenen gegeben, würden sie jetzt Matthias Sammers Analysen bei Eurosport zuschauen.
2015 wird ein gutes Jahr für Patrick Ittrich. Endlich. Seine Noten sind top. Zwei Schiedsrichter ragen heraus: Benjamin Brand und er. Doch nur Brand wird im Sommer nach der Saison befördert. So hat es die fünfköpfige DFB-Kommission entschieden. Er gönnt es dem Kollegen. „Ich kann mich für andere freuen, und das ist keine Floskel.“ Kollegen rufen ihn an: „Du warst doch dran!“ Ittrich verarbeitet den Frust, auch wenn es ihm zunächst schwerfällt, sich auf das nächste Spiel zu konzentrieren. Er schafft es, locker zu bleiben. Die Spieleransprache wird zu seiner Stärke, er trifft fast immer den richtigen Ton. Er weiß jetzt, wann und wen man siezt und wann das Du angebracht ist. Wann ein lockerer Spruch richtig ist und wann eine Erklärung. Wann er laut werden und wann er beruhigen muss. Und er wird belohnt. Am 28. Dezember 2015 ruft Herbert Fandel an, Mitglied der „Schiedsrichter-Kommission Elite“. „Du steigst auf, gleich nach der Winterpause.“ Die Info ist inoffiziell, Ittrich darf nicht darüber reden. Auch nicht beim Winter-Trainingslager der Schiedsrichter im Januar auf Mallorca. Erst danach wird es offiziell.
Auch in Halbzeit zwei hat Grudzinski mehr zu tun, denn nach dem Seitenwechsel ist Hannover offensiver. Die Partie wird hektischer, wie immer bei knappen Spielständen. 77. Minute: Abstoß für Hannover, Ittrich pfeift zurück – der Ball lag nicht ruhig. Nächster Versuch, er pfeift wieder zurück. Die Hannoveraner meckern, Ittrich wird energisch. Man kann nicht eine Kleinigkeit pfeifen und es zehn Sekunden später durchgehen lassen. 79. Minute: Akanji grätscht den Hannoveraner Bazee kurz hinter der Mittellinie hart um. Alle auf der Bank springen auf, Ittrich zeigt Gelb. 80. Minute: Korb schießt den Ball ins Dortmunder Tor und jubelt. Grudzinskis Fahne ist oben. Eine hauchdünne Entscheidung, die Fernsehbilder liefern auch keine Klarheit. Kein Hannoveraner wird sich später beschweren. Erstaunlicherweise.
93. Minute: Ittrich zeigt Sokratis Gelb, er wollte allzu viel Zeit bei einem Einwurf schinden. 93. Minute: Foul eines Dortmunders, das Spiel läuft weiter, wieder Foul eines Dortmunders, wieder läuft das Spiel kurz weiter, erst dann der Freistoßpfiff. Niemand wird später über diese Szene reden, aber für Schiedsrichter ist es so etwas wie der Mercedes unter den Entscheidungen: die Vorteilsregel. Sie ärgern sich schwarz, wenn sie einen vielversprechenden Angriff durch einen zu frühen Pfiff vereiteln. Die 80.000 pfeifen lautstark, sie wollen, dass endlich Schluss ist. Doch der Freistoß wird noch ausgeführt. Abgewehrt. Aus. Handshake mit Spielern und Trainern, Ittrich, Thielert und Grudzinski gehen zufrieden Richtung Tunnel und durch die Mixed Zone. Es ist 15.23 Uhr, und kein Reporter will irgendetwas von ihnen wissen.
Ittrich holt Bier aus dem Bistrowagen
Sonnabend, 13. Februar 2016. Um 17.19 Uhr pfeift Patrick Ittrich das Spiel Wolfsburg gegen Ingolstadt ab. Die 26.000 Wolfsburger Fans bejubeln den 2:0-Sieg, 20 Hamburger Fans bejubeln Ittrich. Es sind Freunde, Kollegen, Wegbegleiter vom Bezirks-Schiedsrichter-Ausschuss Ost. Sie überreichen ihm einen kleinen Pokal. Gemeinsam fahren sie nach Hamburg ins Clubheim von HT16 und feiern. Lange. Der „Kicker“ gibt dem Neuling die Note „Zwei“: „Ansprechendes Erstligadebüt, souveräner Auftritt, gut in der Zweikampfbewertung und Vorteilsauslegung.“
Um 15.47 Uhr herrscht Unruhe in der Schiedsrichterkabine. „Das kann doch nicht wahr sein“, sagt Ittrich und sucht den Blickkontakt zu seinen Assistenten. „Das ist Pech, so etwas passiert eben“, sagt Grudzinski. Er sitzt jetzt am Laptop und studiert den Fahrplan auf der DB-Seite. Der gebuchte Zug, 17.25 Uhr ab Dortmund, ist einfach verschwunden. Cancelt. Doch der 16.25er hat Verspätung, soll um 16.46 Uhr in Dortmund sein. „Schaffen wir das, Peter?“ Der Schiedsrichter-Betreuer ist skeptisch.
„Neulich haben wir 30 Minuten gebraucht, nur um vom Gelände runterzukommen ...“ Sie probieren es. Expressduschen und los. Es funktioniert. Selbst Peter wundert sich, wohin die 81.360 so schnell verschwunden sind, aber um 16.50 Uhr sitzt das Team im IC nach Hamburg. „Nicht einmal eineinhalb Stunden nach Abpfiff. Rekordverdächtig“, meint Grudzinski. Die drei sind zufrieden. Erschöpft, aber zufrieden. Ittrich holt eine Runde Bier aus dem Bistrowagen. „Gute Gesamtleistung, auch wenn er manchmal etwas kleinlich pfiff. Ob Korb im Abseits stand, war selbst mit Hilfslinie nicht eindeutig zu erkennen“, wird der Kicker schreiben. Note „Zwei“.
Im Intranet des DFB liest er die Benotung
Thielert steigt in Bremen aus, er hat ein paar Tage Urlaub vor sich. Der IC fährt um 19.50 Uhr im Hauptbahnhof ein, die beiden nehmen sich ein Taxi. Grudzinski wird Montagmorgen ins Büro fahren, er arbeitet im Einkauf bei einem großen Unternehmen. Ittrich wird um 7.30 Uhr auf seiner Dienststelle sein.
Nachspiel: Dienstag, 10 Uhr. Zeugnisausgabe. Im Intranet des DFB liest Ittrich die Analyse von Schiedsrichterbeobachter Jürgen Jansen. Seit dieser Saison gibt es weit mehr als nur Noten, es ist gewissermaßen ein Berichtszeugnis. Da gibt es Überschriften wie Spielmanagement, Zweikampfbewertung, Persönlichkeit, Disziplinarkontrolle, Stellungsspiel.
Heute ist alles im grünen Bereich. Ganz wörtlich – denn alle Bewertungen sind optisch dargestellt, auf einer Linie, die von Grün über Gelb ins Rote übergeht. Später telefoniert Ittrich mit Lutz-Michael Fröhlich, dem Schiedsrichter-Boss. Auch der ist zufrieden. Aber sie reden noch länger über die 80. Minute und das Abseitstor, das so knapp war. Dann fährt Ittrich ins Lans Medicum, ein Zentrum für Sport- und Trainingsmedizin. Und quält sich.
Diese Woche hat er noch einen Einsatz: ein Testspiel am Donnerstag, HSV gegen Odense. In der Bundesliga darf Ittrich kein HSV-Spiel leiten, hier bietet es sich an. Am Wochenende macht die Bundesliga Pause. Ittrich wird Zeit für seine Familie haben.