Hamburg. Präsident Marc Dieter Evermann übernahm den Club, als er von Europas Spitze tief abgestürzt war. Jetzt geht es wieder rasant aufwärts.
Hans-Peter Stürmer ist sichtlich überrascht, als plötzlich Marc Evermann vor ihm steht. Der Präsident des Handball Sport Vereins Hamburg (HSVH) hat den 72-Jährigen in der Halbzeitpause des Drittligaspiels gegen die Mecklenburger Stiere Schwerin auf der Kopftribüne der Sporthalle Hamburg entdeckt und ist die zehn Stufen zu ihm hochgeeilt. „Schön, dass du wieder da bist“, sagt Evermann. „Du glaubst gar nicht, wie ich mich erst freue“, erwidert Stürmer.
Zwei Wochen zuvor hatte der Kassenprüfer des Handball-Fanclubs Störtebeker vor dem Spiel der Hamburger gegen Empor Rostock auf dem Flur der Halle einen schweren Herzinfarkt erlitten, musste vom Notarzt wiederbelebt und später im Krankenhaus notoperiert werden. Dass der Mediziner mit seinen Sanitätern routinemäßig vor Ort war, rettete Stürmer das Leben.
Im Vergleich zum Fußball sind die Handballer eine kleine Gemeinde. Man kennt sich. Es ist aber diese besondere Art der Wahrnehmung, der Beachtung jedes Einzelnen, die die HSVH-Fans an ihrem neuen Präsidenten schätzen. „Die Geste kam von Herzen“, sagt Stürmer. Evermann (46) führt den Verein seit zwei Jahren. Er stellte sich im April 2016 zur Wahl, als die Not am größten war.
2016 wurde HSV aus Bundesliga abgemeldet
Die Geschichte des HSV Hamburg beginnt 1999, als der Handball Sport Verein Lübeck die Bundesligalizenz des VfL Bad Schwartau übernimmt. 2002 zieht der Club nach Hamburg um, in die neu gebaute Arena am Volkspark. 2011 wird der HSV deutscher Meister, 2013 Champions-League-Sieger. Im Dezember 2015 ist die Spielbetriebsgesellschaft des Vereins pleite, im Januar 2016 meldet Insolvenzverwalter Gideon Böhm die Mannschaft – zu dem Zeitpunkt Tabellenvierter – aus der Bundesliga ab.
Evermann, zu diesem Zeitpunkt erst seit einer Saison als Sponsor dabei, will zumindest den Verein retten, die von der Handball-Bundesliga wiederholt ausgezeichnete Nachwuchsarbeit weiterführen, Leistungshandball für den Standort Hamburg sichern. Interimspräsident Sven Hielscher, Jugendwart Gunnar Sadewater und der ehemalige Cheftrainer Martin Schwalb, der später sein Vizepräsident wird, wirken erfolgreich auf ihn ein.
„Klar war immer: Wenn es einen ambitionierten Neustart gibt, bin ich gerne bereit, mich im wirtschaftlichen Bereich zu engagieren – wenn der neue HSVH eine nachhaltige Struktur auf seriöser betriebswirtschaftlicher Basis aufbaut“, sagt Evermann im Rückblick. Jetzt steht der Club als souveräner Tabellenführer der 3. Handball-Liga Nord vor dem Aufstieg in die 2. Bundesliga. Die Rückkehr in die erste Klasse bleibt das (Fern-)Ziel.
Vergangenheit hat Demut gelehrt
„Langsam, langsam“, mahnt der Präsident heute. „Wir müssen weder aus wirtschaftlichen noch aus sportlichen Gründen irgendetwas überstürzen, wir wollen aber auch die Euphorie unserer Fans, Sponsoren und Partner nicht übermäßig strapazieren. Wir werden wohlüberlegt einen Schritt nach dem anderen machen, weiter Altschulden abbauen und tunlichst versuchen, neue zu vermeiden.“ Keiner im Verein stelle mehr den sportlichen Ehrgeiz über die wirtschaftliche Vernunft. Die Erfahrungen der Vergangenheit hätten Demut und Bescheidenheit gelehrt. „In dieser Grundausrichtung sind wir uns alle einig. Sportchef Martin Schwalb genauso wie der Rest unseres Clubs.“
Evermann wächst in Hollenstedt in der Nordheide auf. In seiner Jugend gilt er als ein talentierter Handballer. Ein angeborener Herzfehler stoppt seine Karriere. Mit 25 Jahren erhält er eine künstliche Herzklappe. Sport darf er weiter treiben, Leistungssport nicht mehr. Heute hält er sich mit Laufen, Radfahren und Saunabesuchen fit.
Statt halbprofessionell in den Handball steigt der Rechtsaußen und Halblinke vollberuflich in die Textilfirmen seiner Familie ein, lernt Außenhandelskaufmann, wird Teilhaber der Holding Anvus und Geschäftsführer der Unternehmensgruppe Horizonte, die vor einem Jahr aus der HafenCity in die Obenhauptstraße am Flughafen Fuhlsbüttel zog. 15 Mitarbeiter vor Ort, 45 im Ausland beschäftigen die Firmen. Der Umsatz bewegt sich bei rund 50 Millionen Euro, der Gewinn ist seit Jahren stabil.
„Die Margen in unserer Branche sind allerdings leider überschaubar“, sagt Evermann. Horizonte lässt Textilprodukte, Sport- und Medizinbandagen in der Türkei, Turkmenistan, Bangladesch, Pakistan, Indien und China ressourcenschonend produzieren – unter Einhaltung internationaler Standards für Arbeits- und Sozialbedingungen, Nachhaltigkeit und Umweltschutz: einem umfassenden Qualitätsmanagement, was anhand von Datenbanken regelmäßig überprüft wird. Das erfordert hohen personellen und logistischen Aufwand, ist für Evermann aber alternativlos.
In seiner Firma legt er Wert auf Nachhaltigkeit
„Unsere hiesigen Auftraggeber – Lebensmitteldiscounter, Drogerieketten, Sportmarken – verlangen das und lassen sich entsprechende Zertifikate immer wieder vorlegen. Andernfalls erhielten wir keine Aufträge. Und ich muss sagen: Es lässt mich auch besser schlafen, wenn ich weiß, dass wir fair mit unseren Produzenten umgehen und uns auch nicht an der Umwelt versündigen“, sagt Evermann. Dennoch sei das nicht die Lösung des Problems, höchstens ein Anfang. „Wir müssen alle umdenken, das Bewusstsein dafür schärfen, was wir als Konsumenten damit anrichten, wenn wir immer nur billig, billig wollen. Wir werden dafür einen hohen Preis zahlen müssen, wenn wir weiter die Umwelt belasten, Ressourcen verschwenden und die Menschen in anderen Teilen der Welt in zum Teil bitterer Armut halten.“
Evermann, so erzählt er, wird als junger Mann in der Firma „ins kalte Wasser geworfen“, muss in der Praxis Unternehmensführung lernen. Seine beiden Söhne mit Ehefrau Sandra, einer Grafik-Designerin, gehen später andere Wege. Philip (22) studiert in Köln und im australischen Melbourne Sportmanagement, spielt Australian Football in der deutschen Nationalmannschaft. Kristof (19) wirft derzeit Handball bei einem isländischen Zweitligaclub in Reykjavík und beginnt im Oktober dieses Jahres ein Studium in Hamburg.
Auferstehung aus wirtschaftlichen Ruinen
Der HSV Hamburg schreibt zwei Jahre nach seiner Auferstehung aus wirtschaftlichen Ruinen wieder zahlreiche Erfolgsgeschichten. Im Schnitt aktuell 2996 Zuschauer in der Sporthalle Hamburg – damit fast 400 mehr als in der Vorsaison und mehr als bei jedem anderen Dritt- oder Zweitligaverein –, 9964 Besucher beim vergangenen Weihnachtsspiel gegen den VfL Fredenbeck in der Barclaycard Arena, 1409 mehr als bei der Premiere 2016 gegen den DHK Flensborg; dazu mehr als 100 Partner und VIP-Kunden sind für Evermann Bestätigung, vieles richtig gemacht zu haben, und Verpflichtung zugleich, dies auch in Zukunft zu tun.
Erfolg, weiß der erfolgreiche Unternehmer, sei im Leistungssport zwar machbar, aber nicht verlässlich planbar: „Es dauert so lange, wie es dauert. Dazu gibt es im Sport zu viele Unwägbarkeiten. Selbst im Geschäftsleben sind Voraussagen über längere Zeiträume zum Großteil Spekulation, weil sich die Marktverhältnisse schnell ändern oder man den richtigen Zeitpunkt für Innovationen, Expansionen und Investitionen verpassen kann.“
Der HSVH bleibt für Evermann vorerst ein Start-up-Unternehmen, sei dafür aber schon sehr gut aufgestellt. Dazu ist es nötig, zunächst in Strukturen zu investieren, eine funktionierende Geschäftsstelle aufzubauen, die alten Räumlichkeiten in der Volksbank Arena zu behalten und die erfolgreiche Jugendarbeit – Kosten: rund 400.000 Euro im Jahr – mit erfahrenen Trainern weiterzuführen.
Rund 250 Fans begleiten das Team auswärts
Die HSVH-A-Jugend gehört in der Bundesliga Nord hinter den Reinickendorfer Füchsen Berlin und dem SC Magdeburg zu den drei Topteams, auch in der nächsten Saison werden Talente den Sprung in die Herrenmannschaft schaffen. Künftige Mehreinnahmen sollen direkt in das Budget für Spieler und Trainer fließen. Evermann rechnet für die 2. Bundesliga, in der 20 Mannschaften spielen und aus der im nächsten Jahr fünf Teams absteigen müssen, mit Einnahmesteigerungen um bis zu 30 Prozent und einem Gesamtetat von etwa zwei Millionen Euro.
Als im August 2016 zum ersten Testspiel des neuen HSVH gegen den Bundesligaclub MT Melsungen 3000 Zuschauer in die Sporthalle Hamburg kamen, ahnte der Präsident erstmals, „welch großes Potenzial in unserem Konzept steckt“. Dass heute fast regelmäßig 250 Fans die Mannschaft selbst in der 3. Liga Nord auch auswärts unterstützen, habe er anfangs nicht für möglich gehalten. „Dieser Zusammenhalt ist beeindruckend“, sagt Evermann.
Sein Engagement hat er bislang keine Minute bereut.