Hamburg. Der olympische Boxweltverband Aiba hat zur Weltmeisterschaft in Hamburg sein Wertungssystem komplett umgekrempelt.
Die Szenen, die den olympischen Boxweltverband Aiba im vergangenen Jahr fast ins Verderben rissen, vergisst niemand, der sie sah. Das Bild, wie der irische Bantamgewichtler Michael Conlan nach seiner Punktniederlage im olympischen Viertelfinale von Rio de Janeiro die Punktrichter mit zwei ausgestreckten Mittelfingern bedachte und sie als „betrügerische Bastarde“ beschimpfte, weil sie ihn gegen den Russen Wladimir Nikitin um den Sieg betrogen hatten, ging um die Welt. Es wirkte wie ein Fanal für den Reinigungsprozess, den die Aiba anschieben musste, um ihren Ruf zu retten. Noch während der Spiele wurden einige Kampfrichter gesperrt, im Nachgang traf der Bannstrahl sogar alle 36 in Brasilien eingesetzten Referees.
Damit ein solcher Skandal sich bei der noch bis Sonnabend in der Sporthalle Hamburg laufenden WM nicht wiederholt, hat der in Lausanne (Schweiz) ansässige Weltverband mit einer radikalen Reform des Wertungssystems Ordnung zu schaffen versucht. Bislang mit Erfolg: Nach vier Wettkampftagen hat es noch kein Fehlurteil gegeben. „Natürlich gibt es ab und an Diskussionen, aber das ist normal. Wir können mit den Leistungen der Kampfrichter sehr zufrieden sein“, sagt Erich Dreke (65), oberster Kampfrichterobmann beim ausrichtenden Deutschen Boxsport-Verband (DBV), der seit 1972 rund 1700 Einsätze am und im Ring absolviert hat.
Viertelfinale heute mit sechs Deutschen
Dem neuen Aiba-Sportdirektor Philippe Tuccelli, der nach Rio mit der Reform beauftragt wurde, liegt besonders die neue Transparenz der Urteile am Herzen. Erstmals gehen bei einer WM die Urteile aller fünf Punktrichter in die Wertung ein. Zuvor waren durch Zufallsprinzip drei der fünf Urteile ausgewählt worden. Außerdem werden die Ergebnisse jeder einzelnen Runde auf Bildschirmen in der Halle offen angezeigt. „Wir haben nichts mehr zu verstecken und möchten die größtmögliche Transparenz schaffen“, sagt Aiba-Präsident Ching-kuo Wu (Taiwan).
Gewertet wird im „Ten Point Must“-System. Jeder Punktrichter muss nach jeder der drei Dreiminutenrunden einen Sieger bestimmen, der zehn Punkte erhält. Der Verlierer bekommt neun oder – bei deutlicher Unterlegenheit – acht Zähler. Am Ende werden die Wertungen jedes Richters zusammengezählt. Haben alle fünf denselben Kämpfer vorn, lautet das Urteil einstimmig 5:0. Gibt es unterschiedliche Ansichten, kann der Kampf als „split decision“ 4:1 oder 3:2 gewertet werden. Unentschieden sind angesichts ungerader Runden- und Punktrichteranzahl ausgeschlossen.
Zufallsprinzip per Computer
Um die Gefahr eines Bestechungsversuchs zu minimieren, werden die Punktrichter erst 45 Minuten vor ihrem Einsatz angesetzt. Ausgewählt werden sie durch Zufallsprinzip per Computer. „Wir sind sehr zuversichtlich, dass all diese Maßnahmen dazu führen, die Probleme der Vergangenheit zu lösen, auch wenn man menschliches Versagen nie ganz ausschließen kann“, sagt Tuccelli. Wer durch offensichtliche Fehlurteile auffällt, werde sofort vom Turnier ausgeschlossen. Insgesamt sind in Hamburg 35 Kampfrichter, die als Punkt- und Ringrichter gleichermaßen einsetzbar sind, aus 34 Nationen im Einsatz. Zwei von ihnen, Jürgen Schröder (Rostock) und Holger Kussmaul aus Ulm, sind Deutsche.
Wer im DBV Kampfrichter werden möchte, muss zunächst einen Lehrgang absolvieren, um in seinem Bezirk als Kampfrichter auf Probe eingesetzt werden zu können. Stimmt die Leistung, kann der zuständige Kampfrichterobmann eine Lizenz beantragen, die sich bei entsprechenden Leistungsnachweisen auf nationale Turniere ausweiten lässt. Um die Lizenz nicht zu verlieren, muss ein Kampfrichter jährlich mindestens eine Fortbildung besuchen und zudem die Funktionstüchtigkeit von Augen, Ohren, Bewegungsapparat und Reaktion durch Attest nachweisen.
WM und Olympia: Nur Dreisterne-Kampfrichter
Um international für die Aiba tätig zu werden, ist neben guten englischen Sprachkenntnissen das Bestehen einer mündlichen und schriftlichen Prüfung notwendig. Wer besteht, erhält einen Aiba-Stern und kann bei internationalen Wettkämpfen eingesetzt werden. Im DBV erfüllen derzeit 31 der rund 650 Kampfrichter diese Anforderung, vier von ihnen sind weiblich. Topturniere wie Olympische Spiele und Weltmeisterschaften sind allerdings Dreisterne-Kampfrichtern vorbehalten. Davon gibt es in Deutschland aktuell acht.
Angesichts einer WM-Tagesvergütung von 50 Euro – zudem trägt der Ausrichter die Kosten für Anreise, Kost und Logis – ist klar, dass selbst ein Dreisterne-Kampfrichter von seinem Hobby nicht leben kann. „Die Einführung von Profireferees ist angedacht, konnte bislang aber nicht finanziert werden“, sagt Dreke. Wenn Profis helfen würden, Skandale zu verhindern, könnten die Verbände allerdings bald umdenken.