Hamburg. Der Hamburger Artem Harutyunyan, Olympiadritter von Rio, startet mit überzeugendem Sieg in die Heim-WM im Amateurboxen.
Was soll einem Boxer schon passieren, der selbst in der größten Aufregung Augen und Ohren für das wichtigste menschliche Bedürfnis hat? Artem Harutyunyan stand schwitzend im Licht der Scheinwerfer, er war herumgescheucht worden von einem Fernsehteam zum nächsten, um zu erklären, wie ihm der Auftakt nach Maß in seine Heim-WM gelungen war. Gerade wollte der Hamburger Halbweltergewichtsboxer dem ZDF-Reporter Fragen zu seinem einstimmigen Achtelfinal-Punktsieg über den starken Engländer Luke McCormack beantworten, als von der Tribüne ein lauter Ruf herüberschallte: „Artem, wir lieben dich!“ Der 27-Jährige schaute zu dem Block, in dem seine Familie und die engsten Freunde saßen, und rief: „Ich liebe euch auch!“
Dass die Zuneigung seiner Anhänger ihn weit tragen könnte bei der Weltmeisterschaft im olympischen Boxen, die noch bis zum Sonnabend in der Sporthalle Hamburg ausgetragen wird, davon konnte man am Sonntagnachmittag einen ersten Eindruck gewinnen. Rund 1500 Zuschauer – und damit mehr als doppelt so viele wie an den ersten beiden Turniertagen – wollten sehen, wie der Olympiadritte von Rio 2016 mit dem Druck klarkommen würde, in seiner Heimat als Medaillenbank für den Deutschen Boxsport-Verband (DBV) gehandelt zu werden.
Ein frühes Aus für den vom DBV als WM-Botschafter ernannten gebürtigen Armenier wäre auch für die Stadt Hamburg, die die Welttitelkämpfe als Referenzveranstaltung für die – später gescheiterte – Olympiabewerbung für 4,5 Millionen Euro teuer eingekauft hatte, ein Tiefschlag gewesen.
Stimmung kocht über
Wie Harutyunyan diesem Druck standhielt, war indes höchst beeindruckend. Von Ringrost, der angesichts von nur einer Wettkampferfahrung seit Rio befürchtet werden musste, war nichts zu sehen. Der Mann vom TH Eilbeck, dessen Bruder Robert (28) so aufgeregt wie immer um den Ring herumtänzelte, stand stabil in der Deckung und überbrückte immer wieder die Distanz, um mit Kopf- und Körperhaken zu punkten. Einer dieser rechten Schwinger krachte in Runde eins dermaßen hart an McCormacks Schädel, dass der Brite taumelte.
Die Entscheidung war spätestens gefallen, als McCormack wegen wiederholten Schlagens auf den Hinterkopf in der letzten der drei Runden einen Punktabzug kassierte. Als das Urteil verkündet war, kochte die Stimmung im Fanblock fast über. „Ich bin sehr glücklich, dass ich vor diesen tollen Fans einen Sieg geschafft habe. Für mich ist es eine riesige Motivation, diese Heim-WM erleben zu können. Mein Gegner war ein zäher Bursche, aber ich habe mich selbst positiv überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so spritzig boxen würde“, sagte der stolze Sieger.
Tatsächlich war Harutyunyan, der als Kleinkind mit seinen Eltern und Bruder Robert dem Konflikt um die Region Bergkarabach nach Hamburg entflohen war, von den bislang sieben gestarteten der zehn deutschen WM-Teilnehmer derjenige, der seine Medaillenambitionen am deutlichsten nachweisen konnte. Salah Ibrahim (Münster/Klasse bis 49 kg), Omar El Hag (Berlin/bis 56 kg) und Murat Yildirim (Berlin/bis 60 kg) schafften auch den Sprung in die Runde der letzten acht.
Drei Angolaner plötzlich verschwunden
Am Montag greifen erstmals auch der einzige amtierende deutsche Europameister Abbas Baraou (Oberhausen/bis 69 kg), der aus Hamburg stammende Ibrahim Bazuev (Köln/bis 81 kg) und Superschwergewichtler Max Keller (Aachen) ins Turnier ein. Ein Trio ist jedoch auch schon ausgeschieden. Nachdem am Sonnabend Hamza Touba (Kaarst/bis 52 kg) als Erster seinen Auftakt vergeigte, ereilte am Sonntag auch Silvio Schierle (Saalfeld/bis 75 kg) und Igor Teziev (Esslingen/bis 91 kg) das Aus.
Abseits des sportlichen Geschehens, das am Auftaktwochenende wie befürchtet kein Publikumsmagnet war, sorgen sportpolitische Wirrungen für Wirbel. Das Exekutivkomitee des Weltverbands Aiba forderte am Sonntag den umstrittenen Präsidenten Ching-kuo Wu (70/Taiwan) auf, für den 23. September eine außerordentliche Exko-Sitzung anzuberaumen und am 12. November am Jahreskongress der Aiba teilzunehmen.
Dort soll Wu, der Hamburg am Freitag bereits wieder verlassen hatte, suspendiert werden. Kritiker werfen ihm vor, den Verband, den 30 Millionen Euro Verbindlichkeiten drücken sollen, finanziell ruiniert zu haben. Zudem wurde bekannt, dass sich die aus drei Sportlern bestehende Nationalmannschaft Angolas nach Frankreich abgesetzt hat, um dort Asyl zu beantragen.
Harutyunyan vor Viertelfinal-Hürde
Das alles wird Artem Harutyunyan nicht in seiner Konzentration stören, und das ist auch gut so. Immerhin wartet am Dienstag (15 Uhr) im Viertelfinale mit dem Usbeken Ikboljon Koldarow eine deutlich höhere Hürde. Der 20-Jährige, der am Sonntag den Kolumbianer John Gutierrez einstimmig bezwang, hinterließ mit seiner Geschmeidigkeit und den blitzschnellen Kontern den besten Eindruck aller bisherigen Starter.
„Ich kenne ihn nicht, aber hier kochen alle nur mit Wasser. Ich will Weltmeister werden, dafür muss ich jeden besiegen“, sagte Harutyunyan. Mit der Liebe seiner Fans im Rücken scheint das möglich zu sein.