Hamburg. Ein Rahlstedter will am heutigen Sonntag seinen und Hamburgs ersten Ironman bestehen. Schon die Vorbereitung hatte große Härten.
Es ist Mitte Januar, die Gehwege in Rahlstedt sind von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, Autos spiegeln sich in vereisten Straßen wider. Von den Dachrinnen der Backsteinhäuser hängen Eiszapfen. Thomas Brandenburg steckt seinen Kopf durch den schmalen Spalt der Wohnungstür. „Moin moin“, sagt er. Sein Händedruck ist fest. Hinter ihm wedelt Vizsla-Rüde Neo mit dem Schwanz.
Brandenburg trägt ein T-Shirt. Sein rechter Oberarm ist bis zum Ellenbogen mit Hamburgs bekanntesten Wahrzeichen tätowiert. Der Michel, die Elbphilharmonie, die „Rickmer Rickmers“ und die Köhlbrandbrücke hat er sich unter die Haut stechen lassen. „Hamburg ist meine Traumstadt“, sagt der 42-Jährige. Dabei ist Brandenburg in Bochum aufgewachsen. Erst seit 2011 lebt er in der Elbmetropole. „Ich brauchte eine Veränderung in meinem Leben“, erzählt der Key-Account-Manager, der für die Vermietung von Lkw und Anhängern zuständig ist. Sein Gesicht legt sich in Falten. „Also habe ich den Neuanfang in Hamburg gewagt.“
Brandenburg setzt eine Wollmütze auf, zieht eine Fleecejacke an und schnürt seine Laufschuhe zu. Vor der Haustür gefriert sein Atem zu Nebelwölkchen. Dann joggt er los. Vor ihm liegen zehn Kilometer Dauerlauf bei minus zwei Grad. „Ich würde jetzt lieber auf der Couch liegen“, gibt er zu. Aber Brandenburg hat ein Ziel vor Augen: den Ironman am 13. August in Hamburg. Noch 209 Tage.
„Es reizt mich, an meine Grenzen zu gehen“
„Manchmal frage ich mich, warum ich mir das Ganze überhaupt antue“, sagt der Rahlstedter. Um sich bei einem Ironman anzumelden, „muss man schon ein bisschen bekloppt sein“. 3,86 Kilometer Schwimmen, 180,2 Kilometer Rad fahren und 42,195 Kilometer Laufen erledigt er nicht mal eben wie den nächsten Wochenendeinkauf im Supermarkt. Auch wenn der Hobbysportler in seinem Leben bereits an elf Halbmarathons, drei Marathons, 19 Triathlons und 23 Radrennen teilgenommen hat. „Es reizt mich, an meine Grenzen zu gehen“, erklärt er. Als Kind hat Brandenburg unzählige Wettkämpfe als Rettungsschwimmer absolviert. So extrem wie heute betreibt der Wahlhamburger den Ausdauersport erst seit sechs Jahren.
Brandenburgs Wangen sind rot vor Kälte. Er reibt sich die Hände. Als er die Wollmütze vom Kopf zieht, steigt Dampf in die Luft. Die heutige Laufeinheit ist beendet. Drei Stockwerke schlurft er mit schwerem Gang zu seiner Wohnung zurück. Der Rahlstedter steckt den Schlüssel ins Schloss, drückt die Tür auf und steuert schnurstracks Richtung Sofa. Er legt die Beine hoch und schaltet den Fernseher ein.
Schwimmbecken im Keller – welch ein Luxus!
Als Brandenburg im September vergangenen Jahres mit einem Kumpel ein Rennen auf Rügen über die Mitteldistanz (1,9 Kilometer Schwimmen/90 Kilometer Rad/21,1 Kilometer Laufen) bezwungen hatte, entschloss er sich zur Teilnahme am Ironman in seiner Heimatstadt. „Wir waren vollgepumpt mit Adrenalin und haben nach drei Bier den Mund zu weit aufgerissen“, erzählt Brandenburg. Zu diesem Zeitpunkt habe allerdings noch nicht festgestanden, dass die Langdistanz wirklich nach Hamburg kommt. „Ein paar Tage später habe ich die Zeitung aufgeschlagen, und der Ironman wurde Wirklichkeit.“
Ende Februar. Thomas Brandenburg steigt über eine Treppe in das 8,5 Meter lange Schwimmbad im Keller seines Wohnhauses. Die schwüle Luft ist erdrückend. Ein beißender Chlorgeruch steigt in die Nase. Brandenburg knotet sich ein elastisches Seil um die Knöchel und krault im Wasser 45 Minuten lang auf der Stelle. Langweilig wird ihm dabei nicht. „Ich höre mit einem Unterwasser-iPod Folgen von den ‚Drei Fragezeichen‘“, sagt er und schmunzelt. Noch 167 Tage bis zum Ironman.
Seit einem Jahr bereitet sich Brandenburg auf den Tag X vor. Sein Trainingsplan – eine Standardvorlage aus dem Internet – variiert von Woche zu Woche. In der Regel trainiert er innerhalb einer Woche zehn bis 15 Stunden. Hin und wieder können es bei langen Ausdauereinheiten an einem Tag bis zu acht Stunden werden.
Büro in den eigenen vier Wänden
Wie lässt sich das enorm hohe Trainingspensum mit seinem Job und Privatleben vereinbaren? Es funktioniert nur schwer. Der Ausdauersportler hat sich sein Büro in den eigenen vier Wänden eingerichtet – das erspart ihm immerhin Fahrzeit. Ansonsten trainiert er meistens nach der Arbeit und ausgiebig am Wochenende. Ein eigenes Schwimmbad im Keller zu haben ist eine Luxussituation.
Ein weiterer Vorteil: Seine Frau Kerstin stärkt ihm den Rücken. „Sie hat mir eine Wildcard gegeben“, erzählt Brandenburg, der seit 2014 mit seiner großen Liebe verheiratet ist. „Während der Vorbereitung auf den Ironman darf ich alles dem Wettbewerb unterordnen. Dafür zolle ich meiner Frau den größten Respekt.“
Auch Ehefrau ist sportbegeistert
Kerstin Brandenburg zieht sich Gummistiefel an, greift nach der Hundeleine und öffnet die Haustür. Neo läuft bereits ungeduldig auf und ab. Während ihr Mann trainiert, geht die 43 Jahre alte Hamburgerin mit dem Rüden spazieren. „Ich bin früher viel gesegelt, habe Tennis gespielt und getanzt“, sagt die ehemalige Leistungssportlerin, „deswegen kann ich Thomas’ Leidenschaft gut nachvollziehen.“
Es regnet. Die Gehwege verwandeln sich in ein braunes Matschfeld. Neo stört das nicht. Er springt mit den Pfoten voraus in die Pfützen. „Es gibt Schlimmeres, als einen sportlichen Mann zu haben“, fährt Kerstin Brandenburg fort. Schließlich könne sie sich auch wunderbar allein beschäftigen. Oder mit Neo. Vor drei Jahren hat das Ehepaar den ungarischen Vorstehhund beim Tierschutz gerettet und in der Familie aufgenommen. Deswegen schafft es die Bauingenieurin nicht, bei jedem Wettkampf ihres Mannes am Rand zum Anfeuern zu stehen. Dafür sind es außerdem zu viele. Aber beim Ironman im August ist sie selbstverständlich an seiner Seite.
Überhaupt im Ziel ankommen
Thomas Brandenburgs vorrangiger Wunsch ist es, überhaupt im Ziel anzukommen. „Wenn ich zwölf Stunden brauche, bin ich zufrieden“, sagt er. Der gelernte Kaufmann kalkuliert mit eineinhalb Stunden für die Schwimmstrecke, sechs Stunden auf dem Rad und viereinhalb Stunden für den Marathon. Ein Hobbyathlet an der Schwelle zum Profi benötigt um die zehn Stunden. Die aktuelle Weltbestzeit hat der deutsche Triathlet Jan Frodeno (35) im Vorjahr im Juli mit 7:35:39 Stunden bei der „Challenge Roth“ in Mittelfranken aufgestellt.
Mitte März. Der große Traum vom Ironman droht zu platzen. Thomas Brandenburg schafft es kaum, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ein Fersensporn, ein dornförmiger Knochenauswuchs an der hinteren Fußplatte, quält ihn. Seine Achillessehne hat sich entzündet. Ein klassischer Fall von Überlastung. „Ich habe Angst, dass ich für den Wettkampf nicht fit werde“, sagt Brandenburg, „es fühlt sich an, als hätte ich einen blauen Fleck unter dem Fuß.“
Fersensporn zwingt zu sechs Wochen Laufpause
Er humpelt in den Behandlungsraum von Dr. Hans Ulrich Schmidt in Wandsbek und legt sich mit dem Bauch auf eine Pritsche. Seine Füße sind nackt. Die Socken stecken in den Sportschuhen. „Hobbysportler muten ihrem Körper eine höhere Belastung zu als Leistungssportler“, sagt der Orthopäde, während er den Fuß seines Patienten abtastet. Was im ersten Moment verwunderlich klingt, hat einen plausiblen Hintergrund: Der Profi könne sich ausschließlich auf den Sport konzentrieren. Brandenburg hingegen habe Stress im Beruf, Verantwortung in der Partnerschaft und Druck wegen seines sportlichen Ziels. Im Grunde genommen sei die Leistung des Amateursportlers also höher anzuerkennen.
„Die Motivation sinkt“
Schmidt hält ein kugelförmiges Schallgerät an den gereizten Fuß. Mit einem lauten, unangenehmen Klicken werden Stoßwellen unter Brandenburgs Haut geschossen. Ein Klick, ein Schuss. Auf diese Weise wird nicht der Fersensporn zertrümmert, sondern das Gewebe drum herum weicher gemacht, damit der Sporn besser federn kann. 2000 Schüsse jagt Schmidt in den Fuß. „Das tut mehr weh als jedes meiner Tattoos“, sagt Brandenburg und beißt die Zähne zusammen.
Sein Gesicht ist angespannt. Fünf Einheiten muss der Triathlet in den nächsten Tagen über sich ergehen lassen. Die Verletzung zwingt ihn zu einer sechswöchigen Laufpause. Nur Fahrrad fahren und Schwimmen funktionierten ohne Schmerzen. „Die Motivation sinkt“, gibt Brandenburg niedergeschlagen zu. Noch 146 Tage bis zum Ironman.
Anfang April. Noch vor der Arbeit am Morgen flitzt der Ironman-Anwärter zu Sportwissenschaftler Henning Hahn in die Praxis nach Sasel. Unter seinem Arm klemmt eine Mappe mit einer losen Zettelsammlung. Bereits im vergangenen Jahr hat sich Brandenburg einer Leistungsdiagnostik im Labor unterzogen. „Ich will nichts dem Zufall überlassen“, sagt der Amateursportler. Die Gefahr, der er sich bei einem Ironman aussetzt, ist nicht zu unterschätzen.
Hahn wühlt in der Mappe, zieht einige Zettel heraus und markiert mit einem Kugelschreiber auffällige Werte in Brandenburgs Blutbild. Er nickt zufrieden. „Das sieht gut aus“, sagt der 39-Jährige. Hahn horcht Brandenburg mit einem Stethoskop ab, misst einen Körperfettanteil von 24 Prozent und begutachtet die Haltung seiner Füße. „Jedes Kilo weniger macht den Körper wettkampftauglicher“, sagt der Heilpraktiker. Er wandert um seinen stehenden Patienten herum und hockt sich dann auf den Boden, um sich die Stellung von Brandenburgs Füßen aus einem anderen Blickwinkel anzusehen.
„Das Pensum ist zu viel des Guten“
„Aus gesundheitlicher Sicht würde ich jedem Athleten von einem Ironman abraten. Das Pensum ist zu viel des Guten“, sagt Hahn. Brandenburg reagiert nicht. Diese Warnung hört er nicht zum ersten Mal. „Der Sportler quetscht das letzte Quäntchen Energie aus seinem Körper heraus. Es dauert etliche Tage oder sogar Wochen, bis der Körper diese enorme Belastung einigermaßen verdaut hat“, fährt Hahn fort. Dennoch: Eine gute Vorbereitung halte das Risiko gering. Wer allerdings während des Rennens an Schwindel, Augenflimmern, Gleichgewichtsstörungen oder starken Kopfschmerzen leide, sollte sofort abbrechen. „Das sind absolute Warnsignale“, sagt Hahn.
Dann reißt er das nächste Kapitel an. Die Ernährung. Nicht gerade Brandenburgs Lieblingsthema. „Was das angeht, bin ich eine Vollkatastrophe“, gesteht er, „wenn eine Chipstüte an mir vorbeifliegt, lebt die nicht lange.“ Hahn muss lachen. Er empfiehlt, auf schwere Fette, Zucker und einfache Kohlenhydrate wie Weißbrot zu verzichten. Vor allem sei es wichtig, ausreichend zu trinken. Nicht selten kämen Triathleten völlig ausgetrocknet im Ziel an.
Ende Mai. Die Vögel zwitschern, die Bäume blühen in einem satten Grün, und ein leichter Wind weht durch die Eichenblätter. Brandenburg dreht eisern eine Runde nach der anderen in einem Wald in Rahlstedt. Auf einer Holzbank sitzen zwei junge Männer und rauchen einen Joint. Dicke Qualmwolken steigen auf. Gibt es Parallelen zwischen Junkies und Sportlern? Ein gewisses Maß an Besessenheit hilft dem Ausdauerathleten dabei, bis an seine Grenzen zu gehen. „Ich habe ein Ziel vor Augen und will es unbedingt erreichen“, sagt Brandenburg, „süchtig bin ich aber nicht.“
Dreimal hat er einen Wettkampf abgebrochen
Auf dem Trainingsplan stehen heute Intervallläufe. Das bedeutet: Die erste Runde wird in einem langsamen Tempo absolviert, die zweite angestrengt und die dritte so schnell, dass die Geschwindigkeit nicht lange gehalten werden kann. Das Ganze wird viermal wiederholt. „Dadurch gewöhne ich mich an Extremsituationen, und meine Grundgeschwindigkeit erhöht sich“, erklärt Brandenburg. Sein Fersensporn bereitet ihm hin und wieder noch Schmerzen. „Aufgeben kommt aber nicht infrage“, sagt er. Noch 79 Tage bis zum Ironman.
Dreimal in seinem Leben hat Brandenburg einen Wettkampf abgebrochen. 2010 ist er bei einem 75-km-Mountainbikerennen im bayerischen Kitzing bei minus 18 Grad nach Kilometer 50 ausgestiegen, 2011 hat ihn bei einem 100-km-Straßenradrennen in Bochum die Lust verlassen. Das dritte Mal schwächelte er 2012 ebenfalls bei einem Straßenradrennen in Berlin über 120 Kilometer. „Das war mein schlimmster sportlicher Moment“, erzählt er und schüttelt mit dem Kopf.
561,60 Euro inklusive Bearbeitungsgebühr
„Es hat wie aus Eimern geschüttet, ich hatte einen Platten und musste mit dem Servicewagen über die Ziellinie fahren. Das war einfach frustrierend.“ Hat Brandenburg Angst, auch am Abenteuer Ironman zu scheitern? „Wenn ich jetzt schon anfange zu zweifeln, sollte ich meinen Startplatz am besten wieder verkaufen.“ Mit 561,60 Euro inklusive Bearbeitungsgebühr fällt das Rennen nicht gerade in die Kategorie „Schnäppchen“.
Mitte Juli. „Fünf, vier, drei, zwei, eins“, zählt eine Computerstimme vom Band runter. Dann fängt Thomas Brandenburg in der 19 Grad warmen Binnenalster an zu kraulen. Der Hamburg Triathlon über die olympische Distanz (1,5 Kilometer Schwimmen/40 Kilometer Radfahren/10 Kilometer Laufen) ist seine letzte Generalprobe vor dem Ironman.
Sein Herz rast. Wie bei jedem Wettkampf. „Die ersten Meter im Wasser sind die schlimmsten“, sagt er. Nach 2:28:46 Stunden joggt er bei leichtem Nieselregen über die Ziellinie am Rathausmarkt. Er hat seine Bestzeit aus dem Vorjahr um fast 20 Minuten unterboten. Erschöpft stützt er sich mit beiden Händen auf den Knien ab. Er zittert am ganzen Körper und schnappt nach Luft. Kalter Schweiß läuft ihm über die Stirn. „Die letzten zehn Sekunden sind die schönsten. Dafür machst du es“, keucht er. Noch 28 Tage bis zum Ironman.
Zwei Mitteldistanzen im Januar in Dubai
In der fast einjährigen Vorbereitungszeit hat Brandenburg fünf Kilogramm abgenommen und wiegt nun 81 Kilo bei einer Körperlänge von 1,85 Metern. Neben dem Hamburg Triathlon hat er zwei Mitteldistanzen im Januar in Dubai (Vereinigte Arabische Emirate) und im Juni in Helsingør (Dänemark) absolviert. Fortschritte wurden vor allem anhand der Wettkampfzeiten sichtbar. Von Dubai bis Helsingør verbesserte sich Brandenburg um 17 Minuten. „Das ist ein tolles Gefühl“, sagt der Sportler.
Aber auch Tiefpunkte musste er wegstecken. „Zwischendurch hatte ich Motivationslöcher“, gibt er zu. Besonders schwer sei es gewesen, sich nach der Arbeit noch in die Laufschuhe zu quälen. „Dann hat mir meine Frau einen Tritt in den Hintern gegeben.“
So fit wie noch nie zuvor in seinem Leben
12. August. Rund 65 Stunden Schwimmen, 130 Stunden Radfahren und 90 Stunden Laufen hat Thomas Brandenburg für das große Ziel absolviert. Er ist so fit wie noch nie zuvor in seinem Leben. Und trotzdem plagen ihn Zweifel. „Bin ich wirklich bereit? Hätte ich noch mehr trainieren müssen? Das sind Fragen, die mich beschäftigen“, sagt er. Die Nervosität sei unerträglich. Aber seine Freude am Sport noch stärker: Er hat sich bereits für das Hamburger Radrennen Cyclassics über 180 Kilometer angemeldet. Es findet nur eine Woche später statt. Im September will er beim Berlin Marathon starten und im nächsten Jahr den Ironman in Hamburg wiederholen. „Aber daran will ich noch nicht denken. Jetzt muss ich erst einmal lebendig im Ziel ankommen.“
Einen Termin beim Tätowierer hat Brandenburg schon vereinbart. Rechts auf die Rippen will er sich die Endzeit seines ersten Ironmans stechen lassen. Der Countdown ist fast abgelaufen. Ein Tag noch bis zum Ironman.