Hamburg. Hamburgs Allzweckwaffe wird auch für die deutsche U21 immer wichtiger. Bei der EM in Polen könnte er mal wieder überraschen.
23 Kerzen und einen Kranz legen sie nieder. Dann schreiben die 23 Spieler des Deutschen Fußball-Bundes in das Besucherbuch. „Fassungslosigkeit über das Grauen“. Es ist Donnerstagmittag. Die deutsche U-21-Nationalmannschaft besucht die Holocaust-Gedenkstätte in Auschwitz-Birkenau. Am früheren Krematorium schweigen die Fußballer eine Minute lang. Das gesamte Team der DFB-Auswahl ist dabei. Es ist ein bewegender Auftakt in die zweiwöchige Reise nach Polen.
An diesem Freitag beginnt die U-21-Europameisterschaft. Die deutsche Mannschaft wohnt während der EM im nur 80 Kilometer entfernten Wieliczka, der Besuch in Auschwitz war fest eingeplant. Am Sonntag (18 Uhr/ZDF) trifft das Team von Nationaltrainer Stefan Kuntz in Tychy in ihrem ersten Vorrundenspiel auf Tschechien. Und unter den 23 Spielern, die Kuntz für das Turnier nominiert hat, ist auch ein Hamburger Jung. Gideon Jung. 22 Jahre jung.
Labbadia holte Jung zu den Profis
Der Defensivspezialist vom HSV bestreitet sein erstes großes Turnier für eine Auswahl des deutschen Fußball-Bundes. Es ist der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die dem Jungen aus Düsseldorf kaum jemand zugetraut hätte. Vor drei Jahren wechselte Jung vom Oberligisten Oberhausen nach Hamburg. Hier spielte er zunächst für die Regionalligamannschaft des HSV, ehe ihn Bruno Labbadia 2015 zu den Profis holte. 24 Monate später hat Jung 48 Bundesligaeinsätze hinter sich. Und die Chancen stehen nicht schlecht, dass er am Sonntag zur deutschen Startelf gehört und auf großer Bühne vorspielt.
Zwei HSV-Spieler holten schon den EM-Titel
„Für mich ist das eine unglaubliche Geschichte und das i-Tüpfelchen des Jahres“, sagt Jung. Ein Jahr, in dem es beim HSV mal wieder viele Verlierer gab. Doch Jung zählte zweifelsfrei zu den wenigen Gewinnern. Und das trotz mehrfacher Rückschläge. Vor der Saison plagten Jung anhaltende Rückenschmerzen. In der Winterpause zog er sich gleich im ersten Training einen Bänderriss zu. Sowohl Hin- als auch Rückrunde hätten für ihn nicht viel schlechter beginnen können.
Immer da, wenn es wichtig wurde
Doch wenn es wichtig wurde, war Jung irgendwie immer da. Und was für den HSV besonders wichtig war: Jung war immer richtig wichtig. Auch wenn das viele gar nicht richtig mitbekommen haben. Was zum einen an seinem Spielertyp liegt. Jung spielt unaufgeregt, schnörkellos und immer im Dienst der Mannschaft. Zum anderen an seinem Charaktertyp. Jung ist unaufgeregt, zurückhaltend und ein echter Mannschaftstyp. Er spricht nicht viel, aber er kann sich sehr gut selbst einschätzen. „Wenn ich kontinuierlich weiter so gut spiele, dann kommt die öffentliche Wahrnehmung ganz von selbst.“
Jung steht jetzt im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Die U 21, der erste Unterbau der A-Nationalmannschaft, hat eine große Bedeutung erfahren, seit Deutschland 2009 unter Trainer Horst Hrubesch mit den späteren Weltmeistern Manuel Neuer, Jerome Boateng, Mats Hummels, Benedikt Höwedes, Sami Khedira und Mesut Özil Europameister wurde.
„Stars von heute, Superstars von morgen“, steht in Polen auf dem Teambus der deutschen U-21-Auswahl. Eine Botschaft, die noch lange nicht auf alle deutschen Spieler zutrifft. Mit dem Neu-Münchner Serge Gnabry oder dem Noch-Schalker Max Meyer verfügt Jung in Polen aber über Mitspieler, denen bereits jetzt Starpotenzial bescheinigt wird. „Die Qualität in unserem Kader ist schon brutal hoch“, sagt Jung. Dabei spielen mit Leon Goretzka, Joshua Kimmich, Julian Brandt oder Timo Werner beim Confed-Cup in einer Woche mehrere Profis bei Bundestrainer Joachim Löw, die auch noch in der U 21 dabei sein könnten.
Jung könnte für Ghana und Deutschland spielen
Für den Hamburger Jung ist das die große Chance, sich in das Rampenlicht zu spielen. Zumal mit dem gebürtigen Hamburger Jung Jonathan Tah der Abwehrchef der U-21-Nationalmannschaft verletzungsbedingt für die EM absagen musste. So könnte Mittelfeldspieler Jung wie auch schon beim HSV in der Innenverteidigung aushelfen. „Ich mag beide Positionen und bin einfach glücklich, wenn ich spiele“, sagt Jung. DFB-Trainer Kuntz schätzt die Vielseitigkeit des Hamburgers genauso wie HSV-Coach Markus Gisdol. „Gideon ist für uns ein wahnsinnig wertvoller Spieler“, sagte Gisdol im Laufe der Rückrunde.
Bei der EM belohnt sich Jung nun für seine Entwicklung. Er kann sich möglicherweise messen mit Portugals Jungstar Renato Sanches von Bayern München oder dem Spanier Saul Niguez von Atletico Madrid, dessen Marktwert auf 40 Millionen Euro taxiert wird. Gideon Jung hat einen Marktwert von zwei Millionen Euro. Aber er ist einer der ganz wenigen, die ihren Marktwert beim HSV stetig steigern konnten, seit er 2014 für 150.000 Euro von Rot-Weiß Oberhausen kam.
Geht es nach Jung, geht seine Kurve in den kommenden Jahren noch weiter nach oben. „Ich kann mich noch in sämtlichen Bereichen verbessern“, sagt der Hamburger selbstkritisch. Ob er irgendwann auch einmal das Trikot der A-Nationalmannschaft tragen wird, ist noch nicht absehbar. Theoretisch könnte Jung auch für Ghana spielen. Seine Eltern kommen beide aus dem westafrikanischen Land. Doch das ist Zukunft. Die Gegenwart ist die deutsche U 21.
Geht es nach Horst Hrubesch, dem Europameistermacher von 2009, könnte Jung eine ähnliche Entwicklung nehmen wie seine Spieler von damals. Der Truppe von 2017 traut er einen Coup wie vor acht Jahren zu. „Die Mannschaft hat wirklich eine Chance, sie ist in allen Bereichen gut aufgestellt“, sagt der 66-Jährige. „Typen wie 2009“, so Hrubesch, seien jedenfalls im Team dabei. „Gute Jungs.“ Typen wie Gideon Jung.