Berlin. Der Trainer der Nationalmannschaft spricht drei Tage vor dem WM-Qualifikationsspiel im Volkspark über das Ziel Titelverteidigung.
Um Punkt 15.15 Uhr öffnet Joachim Löw die Grand Suite 539 des Ritz-Carlton am Potsdamer Platz in Berlin. „Wo wollen wir sitzen?“, fragt der Bundestrainer, der eine Sitzecke und einen Wohnzimmertisch zur Auswahl stellt. Es fällt schwer zu glauben, dass der 56 Jahre alte Fußballlehrer gerade erst sein zehntes Dienstjubiläum als Bundestrainer gefeiert hat. Grund genug für das Abendblatt, mit Löw einen Blick zurück nach vorne zu wagen, bevor er sich am heutigen Mittwoch mit seiner Nationalmannschaft in Hamburg trifft – drei Tage vor dem WM-Qualifikationsspiel am Sonnabend (20.45 Uhr/RTL live) gegen Tschechien im Volkspark.
Herr Löw, beim Abendblatt bekommt man für sein zehntes Dienstjubiläum aktuell 500 Euro brutto. Was haben Sie zu Ihrem Zehnjährigen als Bundestrainer vom DFB bekommen?
Joachim Löw: Bislang noch nichts. (lacht) Aber ich habe im Vorfeld auch jegliche Andeutung einer Feier abgelehnt. Denn gefühlt bin ich eigentlich erst fünf Jahre Bundestrainer. Jedenfalls wirkt es für mich kürzer als zehn Jahre.
Wie kommt das?
Weil es ja immer wieder neue Herausforderungen gibt. Ein Turnier geht zu Ende wie jetzt die EM, und dann kreisen die Gedanken schon wieder um die WM in zwei Jahren. Wo wollen wir da sein? Wohin geht die Entwicklung im Welt-Fußball? Welche Spieler führen wir heran? Das motiviert mich.
Als Sie 2006 übernommen haben, stand mit Michael Ballack nur ein einziger Spieler im Kader, der im Ausland sein Geld verdiente. Heute hat die Hälfte der Mannschaft Auslandserfahrungen. Was sagt das über die Entwicklung des deutschen Fußballs aus?
Dass die deutschen Spieler im Ausland begehrt sind, dass ihre Leistungen registriert werden. Und dass der Wert des deutschen Fußballs insgesamt im Ausland wieder gestiegen ist. Sehen Sie, ich schätze die Qualität der Bundesliga heute als extrem hoch ein, die Liga und die Clubs arbeiten hier hervorragend, das Zusammenspiel mit den Landesverbänden funktioniert, ein Rad greift ins andere. Hier hat der Gedanke an die Zukunft Einzug gehalten. Wir haben Jugendzentren, Förderprogramme, und bei uns ist die Verknüpfung zwischen Ausbildung und der Profiabteilung viel, viel besser geworden. In Deutschland wird nachhaltiger gearbeitet als zum Beispiel in England. Dort werden bei den Spitzenvereinen Spieler für viel Geld geholt, die dann auch ihre Leistungen bringen, aber der Nachwuchs hat viel weniger Chancen als in Deutschland. Das ist unser Trumpf.
Welche Entscheidung aus Ihren zehn Jahren als Bundestrainer würden Sie heute anders treffen?
(nachdenklich) Was ich bedauere, ist, dass Michael Ballack keinen besseren Abgang aus der Nationalmannschaft hatte. Dass wir das nicht zur Zufriedenheit aller haben lösen können.
Hätte Ihnen ein etwas feierlicherer Abschied besser gefallen?
Ja, das hätte mir besser gefallen. Natürlich.
Wie viel Joachim Löw aus der Anfangszeit 2006 steckt noch im heutigen Joachim Löw?
Ich habe mich als Führungsperson weiterentwickelt. Es spornt mich an, Entwicklungen vorauszusehen, mich umzuschauen, was im Fußball passiert. Der Blick in die verschiedenen Länder, in die verschiedenen Arten der Fußballkultur, hat mir enorm in meiner Weiterentwicklung geholfen.
Der neue HSV-Trainer Markus Gisdol hat gerade erzählt, dass er mal bei den Handballern vom THW Kiel hospitiert hat. Holen Sie sich ebenfalls Impulse aus anderen Sportarten?
Wir haben immer mal wieder Kontakt mit Trainern aus anderen Sportarten – vor zehn Jahren schon, als wir uns viel mit Hockey und dem damaligen Nationaltrainer Bernhard Peters auseinandergesetzt haben. Aktuell arbeitet Markus Weise eng mit Hansi Flick und Oliver Bierhoff im Akademie-Projekt zusammen. Da werden viele Vergleiche gezogen und auch Erkenntnisse übernommen, zum Beispiel in der Leistungsdiagnostik. Auch Basketball und Handball sind Themen, aber auch Sportarten, die von der Körperlichkeit und der Intensität leben. Wir haben immer wieder den Blick über den Tellerrand geworfen.
Welche „Tellerrand“-Begegnung hat Sie zuletzt weitergebracht?
Im Fußball haben wir uns in den vergangenen zwei Jahren mit Chile befasst, weil Chile in seiner Entwicklung beeindruckend ist und auf einem taktisch unheimlich hohen Niveau agiert. Die spielen intelligent – und das systematisch. Für ein so kleines Land mit 18 Millionen Einwohnern ist das beeindruckend.
Woran liegt das?
Die haben nicht einen Super-Trainer, sondern eine sehr gute Trainerausbildung. Sie sind nicht nur fokussiert auf ihre eigene Mentalität und ihre eigene Spielweise, sondern suchen sich auch Einflüsse von allen anderen Kulturen, die es gibt. Unser Chefscout Urs Siegenthaler war zuletzt zweimal bei der Copa América, da hat er sich bei den Chilenen umgeschaut, sich mit dem Trainer unterhalten und eine Analyse seiner Erkenntnisse angefertigt.
Welche Erfahrung außerhalb des Sports hat Sie darüber hinaus inspiriert?
Die Besteigung des Kilimandscharo, 2003. Das war das interessanteste und erkenntnisreichste Erlebnis überhaupt in meinem Leben. Ich habe eine Tour gemacht, die fünf oder sechs Tage dauerte. Losgegangen sind wir bei plus 40 Grad im Tropenwald, ich habe Affen gesehen und Papageien. Am Ende kamen wir im ewigen Eis an, am Gletscher.
Wie fühlt sich der Aufstieg an?
Es ist körperlich und geistig eine wahnsinnig große Anstrengung, weil man jeden Tag zwölf Stunden läuft. Am letzten Tag vor dem Aufstieg sind wir morgens um sieben Uhr losgegangen bis abends um 19 Uhr. Dann haben wir nur zwei, drei Stunden Pause gemacht, um in der Nacht den letzten Aufstieg zu meistern und zum Sonnenaufgang auf dem Gipfel anzukommen. Das war die Phase, in der ich geglaubt habe, dass ich keinen einzigen Schritt mehr berghoch gehen kann. Jeder Schritt tat so weh, dass ich das Gefühl hatte, es ist der letzte.
Wie haben Sie sich überwunden?
Ich habe immer zehn Schritte gezählt, um die nächste Pause zu machen. Und wenn ich die zehn Schritte gemacht habe, dann dachte ich: Jetzt drehst du um. So ging das drei, vier Stunden lang, körperlich und geistig völlig am Limit. Und dann gegen 5 Uhr am Morgen haben wir eine Kuppe überquert und den Gipfel gesehen. Bis dahin sind es dann normalerweise noch zwei Stunden. Aber als ich über diese Klippe hinweg war, dachte ich, ich sei neu geboren. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich den Rest joggen könnte. Diese Grenzerfahrung hat mir gezeigt, dass es immer weitergeht, das man immer noch einen Schritt nach vorne machen kann, selbst wenn man glaubt, dass es nicht mehr geht. Und wenn man das Ziel sieht, egal wie schwer es zu erreichen ist, dann dreht man nicht um! Diese Erkenntnis hat mir in meinem Leben immer geholfen – auch bei Rückschlägen oder Enttäuschungen.
Wie kann man es schaffen, sich nach zehn Jahren im selben Job nicht abzunutzen?
Der WM-Titel hat einen großen Motivationsschub bei mir ausgelöst. Natürlich gab es auch Leute, die meinten, das sei ein guter Zeitpunkt, um aufzuhören. Bei mir war es das Gegenteil. Der Titel hat in mir die Gier freigesetzt, diese Leistung bestätigen zu wollen. Das war eine ganz wichtige Erkenntnis für mich. Der Weg nach oben ist das eine. Oben zu bleiben ist etwas ganz anderes. Dieser Plan, den man alle zwei Jahre neu aufstellt, der treibt mich an.
Sie haben zwei Jahre für Ihren Plan, in der Bundesliga ist die Halbwertzeit eines Trainers nicht mal die Hälfte. Sind Sie in diesen Tagen mal wieder froh, kein Bundesligatrainer zu sein?
Alles hat seine Vor- und Nachteile. Natürlich würde ich auch gern täglich mit den Spielern arbeiten. Andererseits habe ich tatsächlich zwei Jahre Zeit, einen Prozess zu steuern. Wobei es natürlich auch Vereine gibt, die eine langfristige Philosophie haben und diese versuchen umzusetzen. Es gibt aber leider auch andere Beispiele ...
… das nächste Länderspiel ist in Hamburg…
Da denke ich jetzt gar nicht speziell an Hamburg, das möchte ich gar nicht beurteilen. Was mir grundsätzlich nicht gefällt, ist die Art und Weise, wie so ein Trainerwechsel manchmal vonstattengeht. Ich habe schon Verständnis, dass auch aus Vereinssicht manchmal ein Trainerwechsel angebracht sein kann. Entscheidend aber ist, dass dies immer fair und korrekt über die Bühne geht. Dieses Gefühl habe ich aber leider nicht immer. Da wird auch mal ein Trainer komplett im Regen stehen gelassen und wochenlang mit einem Ring durch die Nase in der Manege vorgeführt.
Bei Ihnen ist es ja genau umgekehrt: Reinhard Grindel, der DFB-Präsident, würde lieber heute als morgen mit Ihnen verlängern. Wann unterschreiben Sie?
Das Vertrauen ehrt mich. Aber momentan gibt es überhaupt keinen Grund dafür. Jetzt freue ich mich zunächst einmal auf die WM 2018 in Russland.
Wäre es wirklich denkbar, dass Sie erstmals bewusst in ein Turnier gehen, ohne zu wissen, wie es danach für Sie weitergeht?
Natürlich ist das für mich denkbar. Aber sicherlich wird es vor dem Turnier noch einmal ein Gespräch über unsere gemeinsamen Ziele geben.
Herr Löw, zum Abschluss haben wir passend zu Ihrem Zehnjährigen noch zehn schnelle Fragen vorbereitet, die Sie bitte immer mit „Stimmt“ oder „Stimmt nicht“ beantworten. Erste Frage: Joachim Löw schreit nie in der Kabine!
Stimmt nicht.
Löw ist oft genervt von TV-Experten?
Generell nicht. Vielleicht manchmal.
Löw wird nie mehr einen Bundesligaclub trainieren!
Stimmt.
José Mourinho hat sich Bastian Schwein-steiger gegenüber respektlos verhalten?
(überlegt lange): Stimmt nicht.
Die Aufregung um RB Leipzig ist verständlich!
Nein. Pardon: Stimmt nicht.
Die Vertrauenskrise im organisierten Sport (Fifa, Uefa, DFB, IOC) beunruhigt auch den Bundestrainer!
Stimmt nicht. Es gibt genügend positive Beispiele. Gerade auch im DFB.
Hamburg ist wegen seines kritischen Publikums der unbeliebteste Nationalmannschaftsstandort!
(wie aus der Pistole geschossen:) Stimmt nicht.
Joachim Löw hat vor Jahren schon mal mit dem HSV konkret verhandelt!
Stimmt nicht.
Joachim Löw hat sich Berlin wegen der Anonymität der Großstadt als neuen Lebensmittelpunkt ausgesucht!
Stimmt nicht. Ich wohne weiterhin in Freiburg.
Joachim Löw sagt in Interviews immer die Wahrheit!
Stimmt.