Évian-les-Bains. Der Stürmer soll überraschen. Doch überraschend klappt das nicht. Noch nicht. Bei Müller ist noch lange nichts verloren.
Thomas Müller trifft endlich wieder. Zwar nicht das Tor. Aber den Golfball. An seinem freien Tag. Zusammen mit Bastian Schweinsteiger auf der formidablen Anlage des Évian Masters Golf Club in unmittelbarer Nachbarschaft zum Ermitage Hotel. „Wir hatten einfach ein bisschen Spaß“, sagt Müller am Sonntag. „Das tut mal gut. Wir sind ja jetzt schon vier Wochen am Stück zusammen.“
Golfen kann der Müller, das ist bekannt. 6,0 beträgt sein Handicap. Und dass er auch Ahnung vom Golfen hat, macht der Fußballer am Tag nach seinen Abstecher auf das Grün deutlich. Was denn momentan sein Handicap beim Fußball sei, wird der Hobby-Golfer nach dem Vormittagstraining gefragt. „Die Frage ist ja jetzt ein bisschen blöd gewesen“, antwortet der Nationalspieler grinsend. „Golfprofis haben ja kein Handicap. Und als Fußballprofi habe ich dementsprechend auch keins.“ Zaghaftes Gelächter im Raum. Doch Müller setzt noch einen drauf. „Das hätte man aber auch auf Wikipedia vorher nachlesen können.“ Lautes Lachen.
Witze reißen, auch das kann der Müller. Und auch das ist bekannt.
Doch viel wichtiger als das Golfen und das Witzereißen scheint Fußball-Deutschland nach zwei müllerlosen Vorrundenspielen gegen die Ukraine und Polen ein ganz anderes Thema zu sein: das Toreschießen. Kann der Müller auch das Tor noch treffen? Oder war das etwa schon alles Müller oder was?
Thomas Müller (26) sitzt am Sonntagmittag auf dem Podium im weißen Pressezelt direkt neben dem Trainingsplatz der Nationalmannschaft in Évian-les-Bains. Zwei Stühle weiter hat Mario Götze Platz genommen. Die beiden Offensivkräfte suchten in den ersten beiden Spielen nach ihrer Form, jetzt suchen sie nach Antworten. „Wir freuen uns auf das nächste Spiel“, sagt Götze. „Wir haben viel vor“, „Wir sind professionell“, „Wir haben eine sehr gute Ausgangslage.“ Und noch mal: „Wir freuen uns auf das nächste Spiel.“
Es sind aneinandergereihte Sätze aus dem Buch der 1000 Floskeln. Manche ergeben bedingt Sinn, andere nicht. Dann ist Thomas Müller an der Reihe.
Lethargische DFB-Elf im Glück gegen Polen
Es wird ruhig im Raum. Denn Müller kann nicht nur lustig. Müller kann auch ernst. „Es ist nun mal so im Fußball“, sagt er, „dass nicht immer die Gesamtleistung eines Spielers bewertet wird, sondern wie erfolgreich das umgesetzt wird, was vorher als Maßstab angenommen wird. Demzufolge war die Kritik an meinen Spielen gerechtfertigt.“ Doch Müller hat noch nicht fertig: „Wenn man den Einsatz aber ganzheitlich betrachtet und sich fragt, was es braucht, um als Mannschaft erfolgreich Fußball zu spielen, dann waren die Kritiken aus meiner Sicht falsch.“
Müller hatte gegen Polen eine herausragende Zweikampfbilanz
Müller hat nicht getroffen, hat keine Torchance gehabt und hat überhaupt auch nur einen Torschuss gehabt. Doch zur ganzen Wahrheit gehört auch, dass kaum ein Offensivspieler gegen Polen und zuvor im Spiel gegen die Ukraine so viel unterwegs gewesen ist wie Thomas Müller. „Mich hat vor allem beeindruckt, wie Thomas auch mit nach hinten marschiert ist“, lobte Oliver Bierhoff. Zudem hatte Müller beim 0:0 gegen Polen eine für einen Offenspieler herausragende Zweikampfbilanz von 67 Prozent gewonnener Duelle, 75 Prozent seiner Pässe kamen an. Aber: „Von einem Offensivspieler werden nun mal Tore erwartet“, sagt Müller selbst. „Daran werden wir gemessen.“
Besonders er. In der Bundesliga hat es der Schlaks mit den Storchenbeinen in dieser Saison auf unglaubliche 20 Treffer gebracht, in der Champions League waren es acht Tore in zwölf Spielen. Wettbewerbsübergreifend war Müller in 49 Partien 32-mal erfolgreich. Und ausgerechnet jetzt soll Müller, der beim WM-Sieg vor zwei Jahren fünf Treffer erzielen konnte, der Torinstinkt abhandengekommen sein?
Bayerns Stürmer, der laut dem Fachportal Transfermarkt.de einen Marktwert von 75 Millionen Euro haben soll, ist gerade mal 26 Jahre alt. Das vergisst man bisweilen schon mal, weil kaum ein Nationalspieler so reflektiert Binnen- und Außensicht beleuchtet. „Ich darf mich und mein Seelenheil nie von einem Spiel abhängig machen“, sagte er in der Woche vor dem EM-Start dem „Stern“. „Sonst bin ich verloren.“
Dabei ist bei ihm noch lange nichts verloren. Im Gegenteil. Deutschland hat mittelmäßig gegen die Ukraine gespielt – und 2:0 gewonnen. Und Deutschland hat sich mittelprächtig gegen Polen geschlagen – und 0:0 gespielt. „Ihr kennt mich ja“, sagt Müller. „Ich würde auch gegen Nordirland einen zähen Sieg unterschreiben. Und dann eben das Geschriebene im Anschluss ertragen.“
Geschrieben wird in diesen Tagen tatsächlich viel. Das ganze Spektrum. „Der Stürmer ist nicht Teil des deutschen Offensiv-Problems – sondern der entscheidende Teil der Lösung“, steht in der „Süddeutschen Zeitung“. Die „FAS“ fragt dagegen: „War Thomas Müller eigentlich immer nur so sensationell erfolgreich, weil er in so extrem spielstarken Mannschaften steht – in der Nationalelf und beim FC Bayern?“
Viele Fragen. Und nach Angaben des Bundestrainers gibt es nur eine Antwort. So würde Müller auf dem Platz keine Stresssituationen kennen, er sei immer konzentriert, aber immer noch unbekümmert. Und abseits des Platzes sei dieser Müller zu einem Spieler geworden, „der sehr indikativ ist und auf alle Spieler einen guten Einfluss hat.“ Löws Fazit: „Thomas ist ein Entscheider. Das macht ihn so wertvoll.“
Auf dem Golfplatz. In der Pressekonferenz. Und gern auch im gegnerischen Strafraum. Vielleicht schon am Dienstag. In Paris. Gegen Nordirland. Auf dem Grün, dem Müller-Grün.