Hamburg. Klitschkos Gegner macht immer wieder mit verstörenden Aktionen auf sich aufmerksam, gilt als mental instabil. Ein Porträt.
Er hat provoziert, mit Worten und mit Taten, seit der Kampftermin feststeht. Er hat wahnwitzige Interviews gegeben, die Freigabe aller Dopingmittel gefordert und dem Weltmeister beim öffentlichen Training ein Ständchen gesungen, in dem er seinen Sieg voraussagte. Und viele fragen sich nun, bevor Wladimir Klitschko an diesem Sonnabend (22.10 Uhr/RTL) in der Düsseldorfer Esprit-Arena seine drei WM-Titel im Schwergewicht gegen Tyson Fury verteidigt: Ist der Brite einfach nur ein gnadenloser Verkäufer seines eigenen Produkts, oder ist er wirklich so verrückt, wie er wirkt?
Dass Fury ein veritabler Herausforderer sein wird, daran zweifelt kaum ein Experte. Nach dem Polen Mariusz Wach, der am 10. November 2012 in Hamburg immerhin über die zwölf Runden kam, ist Fury erst der zweite Gegner, der größer ist als der Champion – mit 2,06 Metern Körperlänge ganze acht Zentimeter. Das allein reicht natürlich nicht aus, um Klitschko zu gefährden. Für Fury spricht aber, dass er eine solide Amateurausbildung genossen hat. 2006 holte er für Irland, die Heimat seiner Eltern, Bronze bei der Junioren-WM, ein Jahr später für seine Wahlheimat England Gold bei der Junioren-EM.
Nachdem ihm sowohl der irische als auch der britische Verband allerdings das Ticket zu den Olympischen Spielen 2008 in Peking verweigerten, vollzog der verärgerte Fury den Wechsel ins Profilager, wo er all seine bislang 24 Kämpfe gewinnen konnte. Er ist ein konditionsstarker, zäher Kämpfer, der allerdings die Deckungsarbeit oft vernachlässigt und bisweilen Geschwindigkeit vermissen lässt – zwei Faktoren, die Klitschko mit seiner blitzartigen Führhand ausnutzen muss.
Obwohl er 18 seiner Kontrahenten vorzeitig besiegt hat, ist Fury kein One-Punch-Knockouter, vielmehr zermürbt er seine Gegner mit der Anzahl seiner Treffer, wie in seinem bislang besten Auftritt im November 2014 seinen Landsmann Dereck Chisora, der nach der zehnten Runde entnervt aufgab. Wie gut Furys Nehmerfähigkeiten sind, bleibt abzuwarten.
Am Boden war er mehrfach, sogar gegen den ehemaligen Cruisergewichtler Steve Cunningham, entscheidenden Einfluss auf seine Kampfführung hatte keiner dieser Niederschläge. Seine hervorstechendste Eigenschaft ist das Wechseln der Auslage, das Switchen, das er perfekt beherrscht. Fury kann einen Kampf mit beiden Händen aufbauen und problemlos hin- und herwechseln, was manchen Gegner aus dem Konzept bringen kann.
Mental in der Lage, gegen Klitschko anzutreten?
Doch während diese Wankelmütigkeit im Ring seine Stärke sein kann, so ist sie im Privatleben das, was viele Beobachter verstört. In einem langen Gespräch mit der englischen Tageszeitung „Daily Mail“ vertrat der 27-Jährige jüngst derart krude Ansichten, dass der Autor die Frage aufwarf, ob der Pflichtherausforderer der Weltverbände WBA und WBO mental in der Lage sei, gegen Klitschko anzutreten. „Es wirkte, als hätte er Teile des Alten Testaments im Ganzen verschluckt und sie ungefiltert ausgespuckt“, schrieb die „Daily Mail“ angesichts des erschreckenden Vergleichs, in dem Fury Homosexualität auf eine Stufe mit Pädophilie und Abtreibung stellte.
Wie viel Überzeugung in diesen Worten steckte, vermag niemand wirklich einzuschätzen. Fury ist ein eloquenter Mensch, der in einem Interview mit dem Pay-TV-Sender Sky Sports einst den für sein Großmaul bekannten früheren Klitschko-Rivalen David Haye wie einen Schulbuben aussehen ließ. Dennoch gilt der im englischen Wilmslow aufgewachsene Vater zweier Kinder, die Venezuela und Prince heißen, als mental instabil, hatte schon mit Bulimie und Depressionen zu kämpfen. „Manchmal kann ihn seine Psyche verrückt machen, dann braucht er meine Hilfe“, sagte sein Vater John kürzlich der BBC.
Diese Aussage ist besonders interessant, wenn man weiß, dass John Fury für die Entwicklung seines Sohnes, der als Frühchen mit nicht einmal einem Kilogramm Gewicht zur Welt kam, sicherlich nicht immer das beste Vorbild war. Der Vater, der seine Kampfsportkarriere als „Bareknuckle Fighter“, also Faustkampf ohne Handschuhe, begann, bevor er unter dem Namen „Zigeuner-John“ Profiboxer wurde, stammt von den Irish Travellers ab, einem irischen Nomadenvolk.
Er ist stolz darauf, dass ihn viele peinlich finden
Wie er Probleme zu lösen versteht, zeigte sich im Juli 2010, als er einem Rivalen in einem Streit um eine Nichtigkeit mit dem Finger einen Augapfel herausriss. Elf Jahre Haft erhielt er dafür, kam jedoch nach vier Jahren wieder auf freien Fuß. Seitdem teilt er sich die Trainingsarbeit wieder mit seinem Bruder Peter, der Tysons Hauptcoach ist und auch seinen eigenen Sohn Hughie, 21, trainiert. Der ist auch Schwergewichtler und in 17 Kämpfen unbesiegt.
Tyson Fury ist fraglos ein guter Entertainer, er provoziert Klitschko seit Monaten verbal und versucht, ihn mit kleinen Mätzchen wie seinem Auftritt als „Batman“ auf der ersten Pressekonferenz in London Ende September aus der Ruhe zu bringen. Er ist stolz darauf, dass ihn viele peinlich finden. „Ich will das Gegenteil von gewöhnlich sein, denn gewöhnliche Menschen tun gewöhnliche Dinge. Ich will das Besondere tun“, sagte er. Klitschko hat sein Urteil darüber gefällt. „Ich glaube, dass Tyson verrückt ist, und ich weiß, dass ich am Sonnabend mit allem rechnen muss.“
Er sei ein Mann Gottes, „gefüllt mit dessen Herrlichkeit“, sagt Fury, der sich allerdings keiner Religionsgemeinschaft zuordnen lässt. „Ich habe eine Eins-zu-eins-Beziehung mit meinem Schöpfer. Klitschko dagegen ist vom Teufel besessen, er betet Satan an. Wie soll so jemand, der Böses will, gegen einen Menschen wie mich, der das Gute predigt, gewinnen können?“ Sein Glaube an die eigene Stärke dank der Beziehung zu Gott, sagt Tyson Fury, bringe Ordnung in sein Leben, das ohne Glauben nichts wert sei. Die Unordnung, die eine Niederlage an diesem Sonnabend anrichten kann, möchte man sich lieber nicht ausmalen.