Der Weltmeister präsentiert sich wie ein Boxer ohne Knock-out-Qualität. Für Löw sind die Außenpositionen ein Grund für die Torarmut.
Kurz vor Mitternacht fehlte nur noch einer. „Kommt der Marco noch?“, lautete die Frage an den DFB-Betreuer, der noch einmal in der Kabine nachschaute und mit der abschlägigen Nachricht zurückkehrte: „Noch zur Behandlung.“ Man muss dazu wissen: Angeschlagene Spieler sind von der Pflicht ausgenommen, nach Spielende den Frage-Antwort-Parcours bei den Journalisten zu absolvieren. So richtig übel nehmen konnte man Marco Reus den ausgespielten „Verletzungs-Joker“ aber nicht. Was hätte es auch für ihn gebracht, den Frust über die vergebenen Großchancen noch einmal abzurufen und zu erklären, warum er vor dem Tor wie ein Springpferd vor einem Hindernis bockte?
Unterhaltsam und unerwartet spannend war die EM-Qualifikation der deutschen Fußball-Nationalmannschaft mit dem 2:1 gegen Georgien zu Ende gegangen, aber wirklich glücklich und zufrieden war danach niemand. Im Gegenteil. „Ich habe schlechte Laune“, grummelte Jerome Boateng, „so, wie wir heute gespielt haben, brauchen wir nicht bei der EM antreten. Man muss schon Klartext reden.“
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Schließlich diente die Begegnung gegen Georgien als Blaupause für die meisten Qualifikationsspiele. „Immer wieder das gleiche Strickmuster“, analysierte Thomas Müller, „man kann nicht wirklich glänzen, die Gegner machen es einem nicht leicht mit ihrer destruktiven Spielweise.“ Und Bundestrainer Joachim Löw zog einen Vergleich zum Faustkampf: „Wir sind im Moment ein Boxer, der viele Treffer landet, aber nicht frühzeitig den K.o. schafft.“
Ja, die berühmte Chancenverwertung. Wieder einmal. Immerhin, an Erklärungsversuchen mangelte es nicht, die im Endeffekt aber ebenfalls alle nach dem gleichen Muster vorgetragen wurden: Man spielt bis zum Tor sehr ordentlich, lässt aber die ersten Möglichkeiten fahrlässig aus (Boateng: „Eine Katastrophe!“), wird ungeduldig, fahrig und verliert zunehmend die Ordnung. „Das ist schon sehr mühsam“, sagte Müller mit ungewohnt ernster Miene. „Wir müssen an unserer Killermentalität arbeiten.“
Boateng übernimmt die Motzki-Rolle
Was auch für die Defensive gilt. Als unangenehme Folge der kollektiven Abschlussschwäche taten sich zum wiederholten Mal Lücken in der Defensive auf, die Erinnerungen an das legendäre 4:4 gegen Schweden wachriefen, als die DFB-Auswahl in ihrem unbändigen Offensivdrang das Verteidigen vernachlässigte. Um nicht wieder in die Chefkritiker-Ecke gestellt zu werden, wählte Innenverteidiger Mats Hummels die Formulierung „holprig“, um das ungenügende mannschaftliche Verteidigen zu monieren.
Wie so etwas passieren kann? „Das kommt davon, wenn man einen Schritt zu wenig läuft oder glaubt, es geht von alleine. Wir müssen das hinten dann ausbaden“, übernahm Boateng die Motzki-Rolle, flankiert von Torwart Manuel Neuer: „Wenn man das Gegentor anschaut, ist es ganz einfach Schläfrigkeit. Bei einer kurz gespielten Ecke müssen einfach zwei Leute raus, Der Sechzehner muss besetzt sein, das sind Sachen, die mit der Konzentration und Wachsamkeit zu tun haben.“
Und was sagt der (Fußball-)Lehrer dazu? „Im taktischen Bereich müssen wir schon die eine oder andere Überlegung anstellen“, gab Löw indirekt zu, obwohl als Entschuldigung angeführt werden kann, dass bei gerade mal zwei Trainingseinheiten vor einem Länderspiel keine großen Feinheiten einstudiert werden können.
Löw sieht Außenverteidiger als Problem
Natürlich kam auch er nicht umhin, auf die Knipser-Frage einzugehen angesichts einer ineffizienten Quote von sieben, nach guten Chancen, die man für einen Treffer benötigt. Man dürfe jetzt nicht den Fehler machen zu glauben, dass man einen kopfballstarken, großen Spieler wie einst Horst Hrubesch benötige, schließlich hatte Georgien auch drei große Spieler in der Mitte, die genau darauf warteten, dass hohe Bälle reingespielt werden. Nein, hohe Bälle aus dem Halbfeld in den Sechzehner zu hauen, das entspricht auch längst nicht mehr dem Spielstil der hochbegabten deutschen Mannschaft, sondern das technisch anspruchsvolle und schnelle Kombinationsspiel. Also wo ansetzen?
Als Problem macht Löw aus, dass „wir im Moment stark durch die Mitte spielen“. Es fehle die Variante, auf Außen entscheidend mit Tempo durchzubrechen von diesen Positionen. Zu beheben ist dieses Problem nicht mal eben mit einem Fingerschnippen. Ein Jonas Hector spielt in Köln eher aus einer defensiven Grundordnung, ist auf das Konterspiel ausgerichtet. Wenn die Außenverteidiger dann in der Nationalmannschaft hoch stehen sollen, benötigt das naturgemäß Eingewöhnungszeit, was gegen defensive Mannschaften extrem auffällt.
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Überhaupt, die Außenverteidiger. Natürlich ist die Nationalelf überwiegend mit Akteuren von internationaler Klasse oder sogar Weltklasse besetzt – mit Ausnahme dieser Positionen, hier befindet sich Löw noch im Suchmodus. Schon bei der WM 2014 musste der DFB-Coach in der Abwehrreihe improvisieren, hier ist seine Trainerkunst nun wieder gefragt.
So hat mit dem gestrigen Abend eine Testphase begonnen. Am 13. November kommt es in Paris zum Duell gegen den EM-Gastgeber Frankreich, vier Tage später beschließt das Freundschaftsspiel in Hannover gegen die Niederlande das Länderspieljahr. Vielleicht kommt in diesen Partien, in denen der Gegner auch mal nach vorne spielen wird, das zurück, was Mesut Özil im deutschen Spiel derzeit vermisst: „Das Glück.“ Vor allem bei Reus.