Hamburg. Hamburger Profiboxerin ist vor Titelverteidigung an diesem Freitag in Wilhelmsburg zu ihrem Entdecker Frank Rieth zurückgekehrt.

Es ist seine Lieblingsgeschichte, mit entsprechend viel Herzblut und Gestenreichtum kann Frank Rieth sie erzählen. 13 Jahre muss es her sein, er war in Berlin mit seiner besten Kämpferin, die bis dahin keine ihrer Ringschlachten – und nichts anderes als eine Schlacht war jeder ihrer Amateurkämpfe – verloren hatte. Aber beim Warmmachen merkte der Trainer, dass etwas anders war als sonst. „Sie hatte keine Power, und sie roch stark nach Medizin“, erinnert er sich. Auch ihre erhöhte Körpertemperatur machte ihn stutzig. „Aber sie wollte unbedingt kämpfen, es gab nichts, was sie davon abgehalten hätte.“

Es war der Abend, an dem Susi Kentikian ihre erste – und letzte – Niederlage im Amateurbereich kassierte. Ihrem Coach hatte sie eine eitrige Mandelentzündung verschwiegen, sie hatte mit Jodtinktur gegurgelt, um die Mandeln freizuspülen, hatte Fiebersenker eingeworfen und auch sonst alles, was gegen Husten und Schnupfen half. Dann stieg sie in den Ring, verlor knapp nach Punkten, weil in der Schlussrunde die Kraft fehlte, mit der sie sonst alle Gegnerinnen überrollte, und heulte nach dem Kampf eine halbe Stunde in der Kabine Rotz und Wasser. Bis Rieth sagte: „Schluss jetzt mit dem Geflenne. Du gehst raus und feuerst deine Mannschaftskameraden an.“

13 Jahre später sitzt Susianna Kentikian auf dem Sofa im Büro von Rieths Sportschule Agon am Grasweg und muss lachen über die Anekdoten, die ihr Entdecker erzählt. Das Lachen der gebürtigen Armenierin kann selbst riesige Probleme auf Zwergengröße stutzen. Und obwohl es in den vergangenen Wochen wenig Grund zum Lachen gab, weil die Vorbereitung auf ihre Titelverteidigung an diesem Freitag (0 Uhr/Sport 1 live) in der Wilhelmsburger Inselparkhalle gegen die Mexikanerin Susana Cruz Perez immens Kraft kostete, spürt man: Hier, bei Frank Rieth, fühlt sich die Hamburger Fliegengewichtsweltmeisterin geborgen. Das ist einer der Hauptgründe, warum sie wieder zu ihm zurückgekehrt ist.

Schlagfertig: Regina Halmich und Susi Kentikian

Entspannt? Ja, aber extrem schlagstark und schlagfertig: Regina Halmich und Susi Kentikian im Hotel Empire Riverside
Entspannt? Ja, aber extrem schlagstark und schlagfertig: Regina Halmich und Susi Kentikian im Hotel Empire Riverside © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez
Regina Halmich unterstützt Susi Kentikian bei ihrem nächsten Kampf in Hamburg
Regina Halmich unterstützt Susi Kentikian bei ihrem nächsten Kampf in Hamburg © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez
Regina Halmich und Susi Kentikian: Die beiden kennen sich lange
Regina Halmich und Susi Kentikian: Die beiden kennen sich lange © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez
Regina Halmich sagt:
Regina Halmich sagt: "Boxen ist nicht sexy." Über die Boxerinnen hat sie das nicht gesagt... © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez
Regina Halmich und Susi Kentikian im Hotel Empire Riverside über den Dächern von St. Pauli
Regina Halmich und Susi Kentikian im Hotel Empire Riverside über den Dächern von St. Pauli © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez
Weltmeisterin Susi Kentikian kam als Flüchtlingskind nach Hamburg
Weltmeisterin Susi Kentikian kam als Flüchtlingskind nach Hamburg © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez
Regina Halmich und Susi Kentikian beim Foto-Shooting
Regina Halmich und Susi Kentikian beim Foto-Shooting © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez
Beide riskieren eine kesse Lippe: Das können Regina Halmich und Susi Kentikian angesichts ihrer Erfolge auch
Beide riskieren eine kesse Lippe: Das können Regina Halmich und Susi Kentikian angesichts ihrer Erfolge auch © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez
Im Gespräch. Regina Halmich und Susi Kentikian
Im Gespräch. Regina Halmich und Susi Kentikian © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez
Rekordverdächtig: Das Foto-Shooting war innerhalb von wenigen Minuten durch
Rekordverdächtig: Das Foto-Shooting war innerhalb von wenigen Minuten durch © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez
Susi Kentikian vermarktet sich selbst
Susi Kentikian vermarktet sich selbst © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez
Wie wäre ein Kampf der beiden ausgegangen? Regina Halmich und Susi Kentikian würden als Freundinnen nicht gegeneinander boxen
Wie wäre ein Kampf der beiden ausgegangen? Regina Halmich und Susi Kentikian würden als Freundinnen nicht gegeneinander boxen © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez
Susi Kentikian mit ihrem neuen künstlerischen Partner Udo Lindenberg
Susi Kentikian mit ihrem neuen künstlerischen Partner Udo Lindenberg © Witters
WBA-Weltmeisterin Susi Kentikian mit dem Gürtel
WBA-Weltmeisterin Susi Kentikian mit dem Gürtel © dpa | Daniel Reinhardt
Susi Kentikians alter und neuer Trainer Frank Rieth
Susi Kentikians alter und neuer Trainer Frank Rieth © Witters
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Rieth, 52, und Kentikian, 28, kennen sich, seit das 152 cm kleine Kraftpaket im Jahr 2000 ihren älteren Bruder Mikael zum Training begleitete. Rieth war damals noch angestellter Coach beim BSV 19, und davon, dass Kinder ihm bei der Arbeit zuschauen, hält er bis heute nichts. „Ich sage dann: In der Eisdiele guckst du doch auch nicht nur, sondern willst probieren. So ist es mit dem Boxen auch.“ Also probierte Susi Kentikian, und es schmeckte so außergewöhnlich gut, dass sie ihre Bestimmung entdeckt hatte.

Fünf Jahre lang lernte sie bei Frank Rieth, ihre im Leben als Flüchtlingskind aufgestauten Emotionen in kluge Boxtechnik zu kanalisieren. „Mit ihrer Willensstärke und der Härte zu sich und anderen überrollte sie ihre Gegnerinnen. Ich habe versucht, diese Energie in die richtigen Bahnen zu lenken“, sagt Rieth, der aber viel mehr war als nur ein Trainer. Als die Familie Kentikian von der Abschiebung bedroht war, half er mit Kontakten zu Politik und Justiz, dies zu verhindern.

„Frank ist tief in meinem Herzen, weil er mich als Mensch kennt. Er ist immer für mich da, ihm kann ich vertrauen“, sagt Susi Kentikian. Die Trennung zum Jahresende 2005, als sie Profi beim Hamburger Universum-Stall wurde, fiel beiden unheimlich schwer, doch da Amateurtrainern die Betreuung von Profiboxern verboten ist, war sie unumgänglich. Aus den Augen verloren haben sie sich dennoch nie, und natürlich war Frank Rieth, der jeden ihrer Kämpfe schaute, in den ersten Jahren sehr stolz auf die Erfolge seines Schützlings. Kentikian wurde im Februar 2007 erstmals WBA-Weltmeisterin, holte im Dezember 2007 auch den WIBF-Titel und im Oktober 2009 den Gürtel der WBO.

Doch als der Universum-Stall in die Insolvenz rutschte, war es auch mit Kentikians Herrlichkeit vorbei. Sie wechselte zum Magdeburger SES-Team, verlor 2012 zwei Kämpfe in Serie, ging zum Stall von Exweltmeister Felix Sturm nach Köln, fand zwar wieder in die sportliche Erfolgsspur, aber dafür nicht mehr in den Medien statt. Von der Hamburger „Killer Queen“ war ein Häufchen Elend geblieben, und in der Heimat saß Frank Rieth vor dem Fernseher und wunderte sich, was aus seiner Kämpferin geworden war. In einem Abendblatt-Interview kritisierte er ihre Entwicklung scharf; Kentikian schäumte vor Wut, aber sie wusste, dass er recht hatte.

Und daran erinnerte sie sich, als sie im Frühjahr dieses Jahres einen Schlussstrich unter die bisherige Karriere zog und sich aufmachte, um in Eigenregie noch einmal anzugreifen. Seit dem Frühsommer arbeitet sie wieder mit Frank Rieth zusammen, „und es ist, als wäre ich nie weg gewesen“. Da er als Amateurtrainer noch immer nicht berechtigt ist, sie an Kampfabenden zu betreuen, ist der frühere Leichtgewichtsweltmeister Artur Grigorian ihr Cheftrainer, er wird in Wilhelmsburg auch in der Ecke stehen, während Rieth in Reihe eins im Publikum mitfiebert.

Rieth gefällt es nicht, dass Kentikian sich nicht komplett aufs Boxen konzentriert

Aber sie hat mehrfach bei ihm Sparring gemacht, mit Jungs aus seinem Verein Agon, wie früher. Und sie braucht ihn vor allem als Mentaltrainer. „Frank kennt mich ganz genau, und vor allem ist er immer ehrlich mit mir“, sagt sie. Wer die beiden miteinander sprechen hört, der weiß, was sie meint. Er nennt sie „Chaos Queen“ oder „Kampfhobbit“, was sie jedem anderen wahrscheinlich übel nehmen würde. Und er spricht erfrischend unverblümt aus, dass die Vorbereitung alles andere als optimal verlaufen ist.

„Mir gefällt es nicht, dass sie ihre eigene Promoterin ist, weil die Konzentration aufs Boxen darunter leidet“, sagt er. Die finanzielle Abhängigkeit von ihrem Sponsor Care-Energy und ihr Anspruch, es allen recht und deshalb einen besonders guten Kampf machen zu wollen, seien schwere Belastungen. Anhaltende Rückenprobleme hätten mehrfach fast zur Kampfabsage geführt. „Aber dann ist da eben doch noch ihr altes Kämpferherz, das sie durch all diese Probleme durchmarschieren lässt.“ Es sei alles noch da, was sie einst zur „Killer Queen“ gemacht hat, sogar der linke Seithaken, den sie seit Jahren nicht geschlagen hat. „Und vielleicht“, sagt der Coach, „ist es genau richtig, dass sie diesen großen Druck verspürt. Sie soll wieder das Gefühl haben, um ihr Leben kämpfen zu müssen. Dann ist sie am stärksten.“

Wer wüsste das – außer ihr selbst – besser als Frank Rieth?