Schwerin. Der Hamburger Boxer kann in der kommenden Woche in der Inselparkhalle Wilhelmsburg das Ticket für Rio 2016 lösen.
Da hängt dieses kleine Poster an der Wand der großen Trainingshalle. Etwas versteckt zwischen all den anderen Plakaten, von denen die Gesichter prominenter Athleten, die es vom Olympiastützpunkt Schwerin in die weite Welt des Profiboxens geschafft haben, überlebensgroß herablächeln. Aber wer es entdeckt, der saugt die Geschichte ein, die man an diesem Ort atmet. Die Namen der Boxer, die bei Olympischen Spielen Medaillen für Schwerin gewonnen haben, sind dort zu lesen, es soll diejenigen, die heute in der Kaderschmiede des BC Traktor trainieren, zur Topleistung anspornen.
Wenn alles so läuft, wie sie es sich wünschen, dann wird die Liste im September 2016 um einen Namen erweitert: Harutyunyan. Die Brüder Robert und Artem Harutyunyan arbeiten seit 2010 an ihrem Ziel, sich gemeinsam für die Sommerspiele in Rio de Janeiro zu qualifizieren, die im kommenden Jahr vom 5. bis 21. August ausgetragen werden. Und auch wenn die gebürtigen Armenier, die mit ihren Eltern 1991 nach Hamburg flohen, noch immer aus Verbundenheit zu ihren Wurzeln für den TH Eilbeck antreten, wäre ihr Erfolg untrennbar mit Schwerin verbunden.
Artem, 25, und Robert, 26, sind Brüder, für die das Wort unzertrennlich erfunden werden müsste, wenn es nicht bereits existieren würde. Seit 2011 leben die Sportsoldaten in einer gemeinsamen Wohnung in Schwerin. Die Hausarbeit teilen sie sich brüderlich, Robert wäscht und putzt, Artem ist der Chefkoch. Sie trainieren seit August 2012 gemeinsam unter Stützpunkt-Cheftrainer Michael Timm, der sich im seit 2012 insolventen Hamburger Profistall Universum als Weltmeistermacher profiliert hatte. Und als Robert kürzlich seine Freundin nach Paris entführte, um ihr auf dem Eiffelturm einen Heiratsantrag zu machen, zog Artem eine Woche später auf einer Gondel in Venedig nach – nicht mit derselben Frau, immerhin.
Die Brüder, das spürt man in jedem Gespräch, sind füreinander wie der Bierdeckel, den man unter ein wackelndes Tischbein schiebt. Doch um ihr gemeinsames Ziel zu erreichen, sind sie bereit, auch mal getrennte Wege zu gehen. Artem kämpft im Halbweltergewicht, der Klasse bis 64 kg, seit vergangenem Jahr in der vom olympischen Weltverband Aiba aufgelegten Profiserie APB. Robert dagegen schaffte aufgrund seiner nicht ausreichenden Weltranglistenposition im Leichtgewicht (bis 60 kg) den Sprung in die APB zunächst nicht und muss stattdessen den klassischen Weg über Europa- und Weltmeisterschaft gehen, um sich für Brasilien zu qualifizieren.
Während der Ältere also in dieser Woche beim traditionsreichen Chemiepokal in Halle (Saale) seine Form für die EM Anfang August in Bulgarien testet, hat Artem am kommenden Donnerstag (20 Uhr) die Chance seines Lebens. In der Inselparkhalle in Wilhelmsburg trifft er im Finalkampf der APB-Serie auf den Algerier Abdelkader Chadi. Siegt er, dann ist er der erste Hamburger Athlet, der sein Ticket für die Sommerspiele 2016 fest gebucht hat. Zwar sind auch die deutschen Hockeyteams bereits für Brasilien qualifiziert, welche Hamburger Spieler dabei sein werden, ist indes noch unklar.
„Für mich ist das ein unglaubliches Glücksgefühl, dass ich in meiner Heimatstadt die Chance habe, die Olympiaqualifikation zu schaffen. Mein großes Ziel ist nur noch einen Schritt entfernt“, sagt er. Natürlich spüre er die besondere Verantwortung, diesen Druck, in der eigenen Stadt überzeugen zu müssen. Es schauen ja viele Freunde zu, Klassenkameraden aus der Grundschule ebenso wie Trainingspartner vom TH Eilbeck und aus anderen Vereinen. Die Brüder haben mithilfe ihres Managers Raiko Morales, mit dem sie das Projekt HB-Boxing (HB wie Harutyunyan Brothers) gegründet haben, in den sozialen Netzwerken für den Kampf in Wilhelmsburg getrommelt und viel Zuspruch erhalten. „Die HB Army wächst“, sagt Robert lächelnd.
Vater Aram, früher im Sowjetmilitär Karatetrainer und der Wegbereiter für die Brüder in den Kampfsport, wird auch am Ring sitzen. Mutter Hamaspyur nicht, sie hält es nicht einmal aus, Aufzeichnungen der Kämpfe ihrer Söhne zu schauen. „Sie guckt uns nach dem Kampf ins Gesicht, um zu sehen, ob alles okay ist“, sagt Artem. Der Mutter haben die beiden versprochen, niemals gegeneinander zu boxen, ganz wie die Klitschkos. „Ehrensache“, sagen sie.
Überhaupt würden die Brüder alles tun, um ihre Eltern glücklich zu machen. Sie haben nicht vergessen, was diese mit der Flucht aus dem armenischen Bürgerkrieg auf sich genommen haben, um ihren Söhnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Auch wenn sich dieses Leben in den ersten Jahren in Hamburg nicht gut anfühlte. „Wir haben auf Flüchtlingsschiffen und in Asylheimen mit fremden Menschen auf engstem Raum gelebt. Der Geruch und die Angst haben sich in unsere Köpfe eingebrannt, obwohl wir klein waren“, sagt Artem, „aber wir wussten, dass wir unsere Chance bekommen würden, wenn wir hart genug dafür arbeiten.“
Diese Einstellung zieht sich nun durch ihr gemeinsames Leben. „Die Disziplin und der Trainingsfleiß der Jungs sind wirklich unglaublich“, sagt Cheftrainer Timm, „aber sie erledigen auch ihr Leben außerhalb des Rings absolut gewissenhaft.“ Für die Brüder ist das selbstverständlich. „Wir haben nichts geschenkt bekommen, alles, was wir haben, haben wir uns erarbeitet, da werden wir doch nicht leichtfertig mit unseren Chancen umgehen“, sagen sie.
Und was ist, wenn der eine es nach Rio schafft, der andere aber nicht? „Dann“, sagt Artem, „lebt der eine den Traum des anderen einfach mit. Mein Erfolg ist auch Roberts Erfolg.“ Wenn allerdings der Name Harutyunyan im nächsten Jahr doppelt auf dem kleinen Poster zu lesen sein wird, dann wird aus geteiltem Erfolg doppelte Freude.