Essen. Eine Kreisliga bestreikt die Spiele eines Fußballteams. Die Teams wollen so das „unfaire“ und „brutale“ Verhalten ihres Konkurrenten verurteilen.
20 Siege aus 22 Partien: Die bisherige Saison des Kreisligisten BV Altenessen II könnte als Erfolg gewertet werden - wenn die scheinbar glänzende Statistik nicht ihre Schattenseiten hätte. Die Amateurmannschaft steuert zwar dem sicheren Meistertitel Anfang Juni entgegen - aber nur, weil alle anderen Teams die Partien gegen den BVA seit zwei Monaten boykottieren. Woche für Woche bekommt Altenessen automatisch drei Punkte gutgeschrieben - so sehen es die Fußball-Regularien vor.
Der Boykott der 14 Kreisliga-Teams ist ein symbolträchtiger Protest gegen Gewalt im Amateurfußball: Die anderen Clubs werfen den Altenessenern vor, von ihnen auf und abseits des Feldes beleidigt, beschimpft oder bedroht worden zu sein, erklärt der Vorsitzende des Fußballkreises Essen Nord/West Thorsten Flügel.
Die Situation eskalierte, als ein BVA-Spieler nach einem Ausraster gegen einen Schiedsrichter im März lebenslang gesperrt worden war. In einem Kreisliga-Duell Ende Februar wollte der Unparteiische den 23-Jährigen mit Gelb-Rot vom Platz stellen. Der Spieler warf ihn zu Boden, schlug auf ihn ein. Die Liga stand unter Schock.
Wenig später erhielten die Fußballverbände - darunter der DFB - Post von einem Dutzend Vereine: Der Wettkampf sei zuletzt mehrfach durch „unfaires, sogar brutales Verhalten einzelner Spieler, Zuschauer sowie Offizieller gestört worden“, kritisierten die Clubs in ihrem Schreiben. „Der Fußball ist für uns alle ein Hobby, das Spaß machen soll. Dieser Spaß ist aktuell leider nicht mehr im Vordergrund. Gewalt auf und neben dem Fußballplatz lässt es nicht zu, Fußball zu spielen.“ Zwei weitere Teams schlossen sich diesem Vorhaben an, sagt Flügel. Der ligaweite Boykott war damit komplett.
Drei lebenslange Sperren und ein 18-monatiger Ausschluss für Spieler sind die traurige Bilanz dieser Kreisliga-Saison. Zuletzt musste die Essener Polizei einschreiten, als sich Fußballer und Zuschauer bei einer Kreisliga-C-Partie prügelten. „Es fällt schon auf, dass die Brutalität bei Fußballspielen extrem geworden ist“, sagte ein Polizeisprecher. In dieser Intensität habe es dies noch nicht gegeben, meint auch Flügel - genauso wenig wie einen Liga-Boykott in Essen. Dass Mannschaften aus Protest nicht zu Spielen antreten, ist deutschlandweit indes kein Einzelfall.
Nach DFB-Angaben kommt es bei den Amateuren unabhängig vom Landesverband immer wieder zu Boykotten, jedoch sei dies selten der Fall. Näheres will der Dachverband des deutschen Fußballs nicht nennen. Lieber verweist er auf eine eigene Erhebung: Seit dieser Saison sammelt der DFB Daten, wie oft es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen bei den Amateuren kommt. Ziel sei, mit diesen Zahlen in der nächsten Saison an die Öffentlichkeit zu gehen.
Wie sehr Gewalt im unterklassigen Amateurfußball ein Problem darstellt, kann anhand von Statistiken nur schwer gedeutet werden. Eine Studie der Universität Tübingen im Auftrag des DFB kam zu dem Ergebnis, dass durchschnittlich jedes 200. Spiel von Gewalt betroffen ist. In derselben Untersuchung gab aber auch jeder Fünfte der 2600 befragten baden-württembergischen Referees an, in seiner Karriere mindestens ein Mal körperlich angegriffen worden zu sein.
Der Fanforscher Gunter A. Pilz berät den DFB in Gewaltprävention. „Ein Boykott ist in der Regel eine Kapitulation. Klar ist, dass der Fußball niemanden ausschließen darf, schon lange nicht Jugendliche in strukturschwachen Stadtteilen“, sagte Pilz. Auch Flügel sieht den Boykott in seiner Liga kritisch. Für das Gerechtigkeitsempfinden sei es schlecht, dass ein Protest eine Mannschaft auf diese Weise zum Meister machen würde. „Aber es gibt keine Alternative. Wir müssen uns im Fußball nach Ordnung und Satzung halten, auch wenn es mir zutiefst zuwider ist, dass der Verein dadurch aufsteigt.“
Selbst in Altenessen ist zum Saisonende keine große Meisterschaftsfeier geplant, sagt der sportliche Leiter Walter Minewitsch. „Wir sind zwiegespalten. Aber andererseits lehnt man einen Aufstieg auch nicht ab.“