Die Hamburger Schiedsrichter Helmut Sadler und Patrick Silvester über Gewalt im Fußball, zu lasche Strafen und den Mainzer Trainer Tuchel.
Hamburg. Auch im Bereich des Hamburger Fußball-Verbands ist Gewalt, die zu Spielabbrüchen führt, ein bekanntes Phänomen. Wie denken Schiedsrichter darüber, wenn sie mit Brutalität konfrontiert werden? Das Abendblatt bat Helmut Sadler, 62, und Patrick Silvester, 21, zur Diskussion ins Klubhaus von Teutonia 10 an der Max-Brauer-Allee.
Hamburger Abendblatt: Herr Sadler, Herr Silvester, die Gewalt im Amateurfußball ist seit Jahren Gesprächsthema, immer häufiger sind Schiedsrichter die Opfer. Der jüngste Fall aus Berlin, wo ein Referee bewusstlos geschlagen wurde, hat viel Wirbel erzeugt. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie von solchen Exzessen hören?
Patrick Silvester: Ich erinnere mich in solchen Momenten daran, dass ich selbst so etwas vor vier Jahren erlebt habe. Bei einem Pokalspiel zwischen den Zweiten Herren von Weiß-Blau 63 und DSC Hanseat stellte ich Ende der ersten Halbzeit einen Spieler wegen groben Foulspiels mit Rot vom Platz. Einer seiner Mitspieler hat ihn daraufhin angepöbelt, woraufhin ich auch diesem die Rote Karte zeigen musste. Er ist ausgeflippt, kam aus sechs Metern auf mich zugerannt und schlug mir die Faust mitten ins Gesicht.
Wie haben Sie reagiert?
Silvester: Zunächst gar nicht, ich war völlig benommen und geschockt. Zum Glück waren, so habe ich es mir erzählen lassen, sofort vier oder fünf Spieler der gegnerischen Mannschaft bei mir und haben mich geschützt, und auch die Mitspieler des Schlägers und die Zuschauer haben mir geholfen. Ich wurde in die Kabine gebracht, dann kam die Polizei und ein Krankenwagen. Im UKE hat man eine Gehirnerschütterung diagnostiziert. Ich war damals ja erst 17, habe meine Eltern informiert und bin mit dem Taxi nach Hause gefahren.
Was haben Sie gegen den Täter unternommen?
Silvester: Ich habe Strafanzeige gestellt, aber bis heute ist in dieser Sache nichts passiert! Als ich nachhakte, sagte man mir, das sei ein schwebendes Verfahren. Immerhin ist der Spieler vom Sportgericht des Hamburger Fußballverbands für drei Jahre gesperrt worden. Damit war der Vorfall für den Verband allerdings auch erledigt. Geholfen hat mir niemand, nur der Zuspruch von Kollegen und Freunden.
Haben Sie lange gebraucht, um sich von dem Vorfall zu erholen?
Silvester: Drei Monate lang habe ich gar nicht gepfiffen, aber dann habe ich mir gesagt, dass ich mich von so einem extremen Einzelfall nicht unterkriegen lassen will. Mittlerweile glaube ich, dass ich das alles gut verarbeitet habe, auch wenn die Erinnerung im Hinterkopf natürlich noch lebt. Aber ich habe das, was passiert ist, als Einzelfall abgehakt.
Herr Sadler, Sie sind seit 48 Jahren Schiedsrichter, haben aber so etwas noch nie erlebt. War früher alles besser?
Helmut Sadler: Es ist eine Tatsache, dass Schiedsrichtern heute viel weniger Respekt entgegengebracht wird als früher. Fast jede Entscheidung, egal ob für oder gegen eine Mannschaft, wird kommentiert, es wird versucht, Einfluss zu nehmen. Ich habe es in meinem 48 Jahren auch erlebt, dass ich bedroht wurde, dass wir uns in der Kabine einschließen mussten und dass die Tür der Kabine eingetreten wurde. Aber der schlimmste Angriff war von einem Spieler, der mich mit Sand beworfen hat. Das ist harmlos im Vergleich zu dem, was Patrick erleben musste.
Was ist Ihrer Ansicht nach der Grund für die deutschlandweit ausufernde Gewalt?
Sadler: Sie ist ein gesellschaftliches Problem, das sich auch in den Fußball übertragen hat. Viele Menschen haben ein Problem mit Obrigkeiten und sehen in uns Schiedsrichtern keine Partner, sondern Ordnungshüter. Früher wurde der Schiedsrichter als Sportsmann anerkannt, man wurde nach Spielen von den Vereinen zum Essen eingeladen und hat dort mit den Spielern kritische Spielszenen diskutiert. So etwas gibt es heute kaum noch. Da sind die Vereine gefragt.
Fühlen Sie sich von den Vereinen ausreichend geschützt?
Sadler: Der Schutz für den Schiedsrichter muss in erster Linie von den Spielern kommen. Wenn einer durchdreht, gibt es immer noch zehn andere, plus elf gegnerische Spieler, die eingreifen können, um solche Dinge zu verhindern, wie Patrick sie erlebt hat. Der Verband steht in der Pflicht, den Schutz von Schiedsrichtern zu einer Vorgabe zu machen. Viel zu oft jedoch bekommen wir eher Probleme, wenn wir uns selbst schützen. Ich stand vor zwei Jahren mal Nase an Nase mit einem Trainer, weil der sich unmöglich verhalten hatte und ich ihn der Anlage verweisen musste. So etwas sollte normalerweise der Mannschaftskapitän machen oder der Platzwart, aber sie haben es nicht getan, also musste ich es selbst tun. Dafür bin ich vom Verbandsgericht gerügt worden.
Fehlt Ihnen als Schiedsrichter die Handhabe, um mit gewalttätigen Spielern richtig umzugehen?
Sadler: Wir haben vom Regelwerk her genügend Möglichkeiten. Die müssten dann aber auch von den fortführenden Instanzen konsequent genutzt werden. Gewalt darf nicht, wie es zu oft passiert, als Lappalie behandelt werden. Der große Teil der Vereine sieht Schiedsrichter heute als notwendiges Übel, wir werden von allen Seiten angegriffen. Wenn uns dann aber noch nicht einmal das Sportgericht hilft, ist es hart. Es ist heutzutage fast egal, was man dort für eine Aussage macht, weil kaum ein Spieler noch die Wahrheit sagt.
Silvester: Man versucht, uns vor Gericht als die schwarze Sau darzustellen, das habe ich auch schon häufig erlebt. Wissen Sie, was der Täter, der mich geschlagen hat, vor Gericht allen Ernstes behauptet hat? Dass ich gegen seine Faust gelaufen wäre.
Immerhin hat das Gericht ihm in dem Fall nicht geglaubt und ihn drei Jahre gesperrt. Die Vereine behaupten in großer Mehrheit, dass das Sportgericht immer nur den Schiedsrichtern glaubt.
Silvester: Das ist lächerlich. Ich finde die Strafen in Hamburg allgemein zu lasch. Ich habe schon so viele Verletzungen erlebt, die durch Brutalität entstanden ist, die im Amateurfußball, wo Leute ihrem Hobby nachgehen, nichts zu suchen hat. Dafür müsste man Geldstrafen verhängen, die den Vereinen so weh tun, dass sie die Spieler, die Körperverletzungen begehen, aussortieren.
Sadler: Ich sehe es auch so, dass viel härter durchgegriffen werden müsste. Allerdings sind die Vereine und der Verband nur bedingt in der Lage, die Gewalt zu stoppen, die von außen herangetragen wird. Am schlimmsten sind nämlich nicht die Spieler, sondern die Trainer und die Zuschauer.
Silvester: Vor allem Eltern bei Jugendspielen sind oftmals die größten Aufhetzer. Was man dort zu hören bekommt, das ist wirklich schlimm. Dabei müsste doch jeder wissen, dass Rumschreien niemandem hilft.
Sind es nicht die Vorbilder in der Bundesliga, die Spieler und Trainer zu Fehlverhalten animieren? Es gibt doch bei den Profis kaum einen Pfiff, der nicht irgendwie diskutiert wird.
Sadler: Das ist in der Tat ein riesiges Problem. Sehen Sie sich als Beispiel den Mainzer Trainer Thomas Tuchel an. Der benimmt sich an der Linie wie der letzte Mensch, pöbelt nach dem Spiel vor den Kameras weiter, und was ist die Strafe dafür? Nichts! Der hätte für drei Spiele auf die Tribüne gehört. Stattdessen berichten die Medien lieber im nächsten Spiel erfreut darüber, dass er diesmal ruhig geblieben ist. Als ob das eine tolle Leistung wäre! Das sollte Normalität sein.
Der Druck, unter dem Trainer wie Tuchel stehen, ist allerdings auch immens. Würde es helfen, wie in der Handball-Bundesliga eine Karenzzeit von 48 Stunden einzuführen, innerhalb derer man sich nicht über die Schiedsrichterleistung äußern darf, um die Emotionen herunterzukühlen?
Sadler: Ich finde das, was der Handball da macht, hervorragend. Ich denke, dass das dem Profifußball sehr helfen würde, und im Endeffekt dann vielleicht auch uns Amateuren. Die meiste Gewalt entsteht ja aus Emotionen.
Wir haben viel über die Schuld der anderen gesprochen. Leisten nicht aber auch die Schiedsrichter ihren Beitrag, wenn sie zu arrogant und unfehlbar auftreten? Viele Vereine beklagen sich darüber, dass die Schiedsrichter zu penibel pfeifen und sich keinerlei Diskussionen stellen.
Sadler: Die Vereine und Verbände haben sich ein Regelwerk gegeben, und unsere Aufgabe ist es, die Anweisungen umzusetzen. Wenn man Ordnung haben will, braucht man eine Linie, und wir müssen diese befolgen. Dennoch gebe ich zu, dass es Anweisungen gibt, die uns das Leben schwer machen. Dazu gehört die Passkontrolle vor Spielen genauso wie Rot und Elfmeter bei Notbremsen oder Gelb für Trikotausziehen. Für solche Regeländerungen brauchen die Verbände zu viel Zeit.
Silvester: Das Problem ist, dass ein junger Schiedsrichter, der auf eine Karriere hofft, gar nicht anders kann als sich penibel ans Regelwerk zu halten. Wer die Anweisungen nicht befolgt, wird von den Beobachtern schlechter bewertet, und das kann über Wohl und Wehe der Karriere entscheiden. Ich beneide die älteren Kollegen manchmal sehr darum, dass sie auch mal Freiheiten haben, lockerer mit den Spielern zu reden. Man sieht ja, dass das gut ankommt. Aber die Älteren haben auch keine Ambitionen mehr. Wer noch aufsteigen will, kann sich Lockerheit nicht leisten.
Sadler: Es stimmt schon, wenn man mal Fünfe gerade sein lässt, schadet es der Karriere. Das Problem ist, dass die Funktionäre, die die Vorgaben machen, oftmals die Realität verkennen. Als ich mit dem Leistungspfeifen aufgehört habe, bin ich Bezirks-Schiedsrichterobmann geworden und habe versucht, einige Dinge zu ändern. Man hat mir dann vorgeworfen, ich sei zu weich und zu menschlich. Natürlich müsste man sich gegen einige Vorgaben wehren, aber wer traut sich das schon? Als kleiner Mann kann man beim Verband einfach nichts ausrichten. Die Funktionäre haben sich bequem eingerichtet und genießen ihre Privilegien, aber sie kämpfen zu wenig für uns. Es ist doch bezeichnend, dass Hamburg keinen Bundesligaschiedsrichter hat.
Der Steuerskandal, in den einige DFB-Schiedsrichter verwickelt sein sollen, dürfte Ihnen auch das Leben nicht gerade einfacher machen.
Sadler: Ich denke nicht, dass da viel hängen bleibt. Ich frage mich auch, wie so etwas überhaupt aufkommen kann. Man kann doch alle Spiele ganz genau nachprüfen und die Einnahmen der Schiedsrichter kontrollieren. Der Fall Hoyzer hat uns viel mehr geschadet. Ein gekaufter Schiedsrichter ist sicherlich das Schlimmste, was es im Fußball gibt.
Wenn man Sie beide so hört, kann man sich schon fragen, warum Sie überhaupt noch Schiedsrichter sein mögen.
Silvester: Ich habe als Elfjähriger angefangen, Spiele zu leiten, zunächst auf dem Schulhof, dann auf dem Platz. Mein Traum war die Bundesliga. Durch meinen Job in der Sicherheitsbranche war es mir nicht mehr möglich, weiter auf Leistungsebene zu pfeifen, aber das Gefühl, ein Spiel leiten zu können und gebraucht zu werden, motiviert mich weiterhin. Der Umgang mit den Spielern macht mir einfach Spaß.
Sadler: Mich treibt an, mit 62 Jahren meine körperliche Fitness unter Beweis stellen zu können. Außerdem habe ich das Gefühl, dass mich das Pfeifen erdet. Ich komme viel in Hamburg herum, lerne viele unterschiedliche Menschen und auch Kulturen kennen. Das macht mir nach wie vor großen Spaß.
Lassen Sie uns zum Abschluss nach Lösungen suchen, um dem schlechten Benehmen Herr zu werden und das Schiedsrichter-Dasein wieder attraktiver zu gestalten. Was muss dafür aufseiten der Vereine und Verbände passieren?
Sadler: Ich würde mir wünschen, dass das Diskutieren über Schiedsrichter-Entscheidungen grundsätzlich verboten würde. Jeder Spieler, der diskutiert, könnte beispielsweise mit einer Zeitstrafe vom Platz gehen. Ich denke, dann hätten wir relativ schnell Ruhe.
Silvester: Mein Wunsch wäre es, dass Gewalttäter verpflichtend den Schiedsrichter-Schein machen müssten und die Auflage bekämen, fünf Jahre lang mindestens zehn Spiele im Jahr zu leiten. Wer das nicht tut, dürfte nicht mehr Fußballspielen. Wer es tut, der bekommt schnell einen Eindruck, was es heißt, der Arsch zu sein.
Sadler: Außerdem müssen Schiedsrichter besser bezahlt werden. Derzeit gibt es 25 Euro plus 5,50 Euro Fahrgeld für ein Oberligaspiel. Da verdienen Jugendliche für den gleichen Zeitaufwand an der Tankstelle oder im Supermarkt mehr. Hamburg ist einer der schlechtesten Zahler in Deutschland. Mehr Geld heißt zwar nicht gleich mehr Akzeptanz, aber wenn wir bessere Schiedsrichter wollen, müssen wir den Nachwuchs auch besser ködern. Bislang werden doch meist diejenigen Schiedsrichter, die zum Spielen zu schlecht sind. Dann muss man sich über mangelhafte Qualität nicht wundern. Außerdem würde es sehr helfen, wenn Profis als Vorbild wirken und den Schiedsrichterschein machen würden. Warum gibt es keinen ehemaligen Bundesligaspieler, der nach der Karriere als Schiedsrichter einsteigt?
Und was müssen die Schiedsrichter besser machen?
Silvester: Wir müssen uns besser schulen und auf Situationen einstellen, in denen die Gewalt zu eskalieren droht. Wir müssen daran arbeiten, wieder als Partner und Freund der Spieler wahrgenommen zu werden und nicht als Feindbild.
Sadler: Und wir müssen lernen, Kritik untereinander zu akzeptieren und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Da ist noch viel Arbeit zu tun.