Der Schweriner Halbschwergewichtsweltmeister verteidigt an diesem Sonnabend seinen WBA-Titel in Rostock und lässt vorab sein erstes Jahr für den Berliner Sauerland-Stall Revue passieren.
Hamburg. Um große Worte ist Kalle Sauerland selten verlegen, doch die Superlative, die der Mitinhaber des Berliner Sauerland-Teams am 14. Dezember in Neubrandenburg fand, um die Leistung von Jürgen Brähmer zu würdigen, hallten noch lange nach. „Für mich ist es das Sport-Comeback des Jahres, weil Jürgen nicht nur ein überragender Sportler, sondern auch ein überragender Mensch ist“, sagte der Promoter, nachdem Brähmer sich durch einen einstimmigen Punktsieg (117:110, 117:110, 115:112) über den von nordamerikanischen Ureinwohnern abstammenden Marcus Oliveira den WBA-WM-Titel im Halbschwergewicht gesichert hatte.
Fast vier Monate sind seitdem vergangen, an diesem Sonnabend (22.10 Uhr/ARD live) steigt der 35 Jahre alte Schweriner in der Rostocker Stadthalle zur ersten Titelverteidigung gegen den Italo-Waliser Enzo Maccarinelli in den Ring. Vorher nahm er sich jedoch Zeit, um für das Abendblatt das vergangene Jahr noch einmal Revue passieren zu lassen.
Im Februar 2013 hatte Brähmer in seinem ersten Kampf unter der Sauerland-Flagge Eduard Gutknecht besiegt und sich den EM-Titel geholt, den er im April gegen den Franzosen Tony Averlant und im August gegen den Italiener Stefano Abatangelo verteidigte. Und dann hatte er die WM-Chance erhalten, die wohl letzte Möglichkeit, im Herbst seiner Karriere noch einmal dorthin vorzustoßen, wo er zwischen 2009 und 2011 als WBO-Champion schon einmal gewesen war: in die Weltspitze.
Mit einer beeindruckenden Leistung gegen einen allerdings enttäuschenden Gegner nutzte Brähmer diese Chance, und seitdem werden die Lobeshymnen abgespielt, die man so oft hört, wenn Zwischentöne nicht zählen, sondern es nur Schwarz oder Weiß gibt. Dass Jürgen Brähmer ein neuer Mensch geworden sei, dass er ein neues Leben führe und die Vergangenheit, die mehrjährigen Gefängnisaufenthalte wegen diverser Delikte und die Streitereien mit früheren Wegbegleitern und Geschäftspartnern, hinter sich gelassen habe.
Jürgen Brähmer muss grinsen, wenn er diese Dinge hört oder liest, er hat dieses ganz spezielle Grinsen, das seinem Gesicht etwas Spitzbübisches verleiht. Er hat nie viel darauf gegeben, was andere von ihm gehalten haben, er war immer darauf bedacht, sich niemals zu verbiegen, um anderen zu gefallen, sondern wollte eigentlich nur in Ruhe sein Ding durchziehen. Unabhängigkeit ist sein Lebensthema, und immer, wenn ihm jemand diese streitig machen wollte, wurde er ungemütlich.
Und doch kann Jürgen Brähmer nicht verbergen, dass es ihm ein Stück weit guttut, dass jetzt allgemein gewürdigt wird, dass er nicht nur zurückgekommen ist auf die große Boxbühne, sondern wieder mittendrin ist im Geschäft. In den Verhandlungen zwischen Sauerland und TV-Partner ARD um die Verlängerung des zum Jahresende auslaufenden Vertrags ist Brähmer ein wichtiges Faustpfand für seinen neuen Arbeitgeber. „Als ich vor einem Jahr bei Sauerland anfing, war das ein sehr ambitioniertes Ziel, mich noch einmal zum Weltmeister zu machen. Dass es innerhalb von zehn Monaten geklappt hat, ist doch eine gigantische Nummer. Ich freue mich einfach, dass ich das noch einmal erleben darf“, sagt er.
Und zu einem gewissen Teil stimmt es ja auch, dass er ein neues Leben führt. Alte Freunde, die ihn aus Jugendzeiten kennen, sagen zwar, er sei noch immer der mecklenburgische Sturkopf, maulfaul in der Regel und aufbrausend, wenn es nicht so laufe, wie er es sich vorstelle. Aber als vor zwei Jahren seine Tochter Jasmin geboren wurde, war das ein Einschnitt, der den gelernten Schweißer verändert hat, ihn und seine Denkweise. „Die Prioritäten verschieben sich einfach total“, sagt er.
Das erkenne er vor allem daran, dass er sich bei jeder Entscheidung nicht mehr frage, ob sie gut für ihn selbst, sondern ob sie gut für die Tochter ist. Brähmer genießt jede Minute, die er mit der Kleinen verbringt. „Ich mache sehr gern Kinderdienst, das ist für mich eine richtig schöne Gelegenheit, den Kopf freizukriegen“, sagt er. Mit seiner Partnerin Tatjana, die als Finanzcontrollerin in einer Hausverwaltung arbeitet, und Jasmin lebt er in einer zum Wohnhaus umgebauten, ehemaligen Porzellanmanufaktur am Schweriner See, keine 15 Minuten Autofahrt von der Innenstadt entfernt. Dort findet er das, was ihm am wichtigsten ist im Leben: seine Ruhe.
Öffentlichkeit war ihm schon immer grundsätzlich zuwider, was paradox erscheint, wenn man vor Millionen seinen Beruf ausübt und gut dafür bezahlt wird. Schulterklopfer hat er früher barsch abgewiesen, wenn sie ihm nicht sympathisch waren. „Ich war sicherlich nicht der Netteste, aber das wollte ich auch nie“, sagt er. Heute, mit etwas mehr Reife, verhalte er sich schon höflicher. „Aber wenn mich einer nervt, dann sage ich es deutlich. Ich denke, ich bin erwachsen geworden, aber in vielen Situationen auch noch genauso wie früher“, sagt er.
Man nimmt es ihm ab, wenn er erzählt, dass er das Boxen nicht gewählt hat, weil er Anerkennung von außen gesucht hat, sondern sich dafür entschieden hat, weil ihm das Talent dafür geschenkt wurde und er spürte, dass er es im Faustkampf am ehesten zu einem angemessenen Verhältnis aus Arbeit und Verdienst bringen konnte. Geschäftstüchtig, das war Brähmer schon früh, und als er nach der endgültigen Haftentlassung im Herbst 2005 anfing, seine Instinkte zu kontrollieren und nach und nach sein Umfeld von ihm schadenden Begleitern zu befreien, baute er sich auch sein zweites Standbein neben dem Boxen auf.
Bis heute redet der in 44 Profikämpfen zweimal besiegte Rechtsausleger nicht öffentlich über die vielen Geschäfte, die er mittlerweile betreibt. Immobilien interessieren ihn ebenso wie das gesamte Spektrum des kaufmännischen Handelns, sein neuestes Beteiligungsprojekt ist ein Bio-Schlachthof, auf dem naturbewusste Kunden das Rind, das sie irgendwann einmal essen wollen, von dessen Geburt bis zu dessen Tod als Pate begleiten können. Er hat viele Ideen, aber wenig Interesse daran, sie auszuplaudern. Das hat er von Klaus-Peter Kohl gelernt, dem Gründer des Universum-Stalls, für den er bis 2012 boxte. Kohl hatte Brähmer stets als „Jahrhundert-Talent“ bezeichnet und sich als Vaterersatz verantwortlich gefühlt, doch heute herrscht Funkstille zwischen den beiden.
Brähmer verübelt seinem einstigen Förderer noch immer, dass dieser sich seit Sommer 2010, als der TV-Vertrag mit dem ZDF ausgelaufen war, um die ordnungsgemäße Erfüllung der Verträge gedrückt habe. Nur deshalb habe er seine WM-Titelverteidigungen im Januar 2011 in Kasachstan gegen Beibut Shumenov und vier Monate später in England gegen Nathan Cleverly abgesagt, was letztlich im kampflosen Verlust seines Titels endete. „Ich lasse mich nicht verarschen. Ich kann auf Geld verzichten, aber nur, wenn man ehrlich mit mir ist, und das war Kohl nicht. Bei ihm hört bei Geld die Freundschaft auf, bei mir nicht. Das ist der Unterschied“, sagt er.
Schon ein Jahr vor der Geschäftsübergabe Kohls im Juni 2011 an Waldemar Kluch, der Universum dann 18 Monate später in die Insolvenz führte, habe er geahnt, dass etwas nicht stimmte. „Nach und nach habe ich verstanden, dass Herr Kohl nur noch Märchen erzählt hat. Im Nachhinein, mit dem Wissen von heute, ergibt das alles einen Sinn. Aber unfassbar finde ich bis heute, dass er den ZDF-Vertrag aus Geldgier nicht verlängert hat, weil die etwas weniger zahlen wollten. Da hat er jegliche Verantwortung für seine Mitarbeiter aufgegeben“, sagt er.
Allzu viel in der Vergangenheit wühlen möchte Jürgen Brähmer allerdings nicht. Er will vielmehr genießen, dass er jetzt noch einmal durchstarten kann. Er hat sich ein kleines Team seines Vertrauens geschaffen, mit seinem Hamburger Manager Peter Hanraths, den er aus alten Universum-Tagen kennt und schätzt, und mit seinem Rechtsanwalt Johannes Eisenberg, mit dem er während der Trainingsphasen in Berlin Tür an Tür wohnt. Er fühlt sich wohl in der Trainingsgruppe von Karsten Röwer, in der er als Leitwolf wichtige Erfahrungen weitergeben kann, und auch die Partnerschaft mit Kalle und Wilfried Sauerland sei sehr angenehm.
Große Pläne für die sportliche Zukunft hat er noch nicht geschmiedet. Nun gelte es zunächst einmal, Maccarinelli klar zu bezwingen, danach werde er sich um alles Weitere kümmern. „Es gibt doch eine Menge interessanter Kämpfe“, sagt er, „ich würde zum Beispiel gern gegen Bernard Hopkins in den USA kämpfen, wenn das Angebot gut ist.“ Und wenn es nicht gut ist, wenn es überhaupt nichts mehr gibt, was ihn reizt, oder wenn der Spaß am Boxen, den er seit der Unterschrift bei Sauerland wieder verspürt, endgültig verloren gegangen ist, dann wird er einfach aufhören und sich neuen Geschäften widmen. „Ich habe mich nie aufs Boxen reduziert“, sagt er. Vielen Wegbegleitern, die das getan haben, die ihn lange unterschätzt haben, geht es heute schlechter als ihm.
Ob er sich als zufriedenen Menschen bezeichnen würde, vielleicht sogar als so glücklich wie niemals zuvor in seinem Leben? Jürgen Brähmer hat auch dazu eine eigene Sichtweise. „Ich bin nie zufrieden, ich strebe immer nach mehr, das ist mein Antrieb. Aber ich habe eine Super-Frau, ein tolles Kind, den WM-Titel in meinem Sport und die Freiheit zu tun, was mir Spaß macht. Insofern kann ich sagen, dass es anderen sicherlich schlechter geht als mir.“ Für einen maulfaulen Mecklenburger wie ihn ist das ein fast schon euphorischer Rückblick auf ein ziemlich verrücktes Jahr.