Haas sorgt derzeit bei den French Open für Furore. Rothenbaum-Turnierdirektor Stich traut dem 35-Jährigen gegen Djokovic in Paris viel zu und hält sogar einen Grand-Slam-Sieg in Wimbledon für möglich.
Michael Stich, 44, gewann 1991 in Wimbledon und ist Turnierdirektor am Rothenbaum
Hamburg. Wenn Sie in diesen Tagen die French Open in Paris verfolgen, geht es Ihnen hoffentlich wie mir: Es macht riesigen Spaß, Tommy Haas beim Siegen zuzuschauen. Man spürt, wie viel Freude es ihm derzeit bereitet, sich auf dem Platz mit den jüngeren Spielern zu messen und ihnen ihre Grenzen aufzuzeigen. Ich würde mich sehr freuen, wenn am Ende dieser Woche der letzte Deutsche, der das Finale der French Open erreicht hat, nicht Michael Stich heißen würde.
Tommys große Stärke ist seine Variabilität. Wo die meisten einfach nur so hart draufhauen, wie sie können, schafft er es, mal einen überraschenden Stopp zu spielen. Er beherrscht Slice und Topspin, spielt manchmal kurze Winkel, er hat einen starken Aufschlag und kann auch Punkte am Netz gewinnen. Kurz: Er ist ein kompletter Spieler, der über so viel Erfahrung verfügt, dass er auf jede Situation reagieren kann. Früher war er auch einer derjenigen, die versucht haben, so hart wie möglich zu spielen. Das tut er nicht mehr, weil er weiß, dass die anderen härter schlagen. Dafür spielt er kreativer, und das hilft ihm.
Ich amüsiere mich darüber, dass so viele über sein Alter reden. Ich bin da ganz bei Otto Rehhagel: Es gibt keine jungen oder alten Spieler, sondern nur gute und schlechte. Ein Jimmy Connors stand mit 39 noch im Halbfinale der US Open. Entscheidender ist, dass ein Spieler Spaß an dem hat, was er tut. Auch ein Rekordmatch wie das in der dritten Runde, als Tommy gegen John Isner 4:37 Stunden auf dem Platz stand, spielt keine Rolle. Ich darf aus eigener Erfahrung sagen, dass ein solches Match vielmehr unglaubliche Energie freisetzt. Wer wie Tommy mit dem 13. Matchball siegt, der geht beschwingt in die weiteren Matches. Das hat man im Achtelfinale gesehen, als Haas gegen Michail Juschni 6:1, 6:1 und 6:3 gewann. Von Müdigkeit war da nichts zu spüren. Körperlich, und das ist sicherlich das, was auch ihn am meisten überrascht, ist Tommy nach seiner langen Verletzungsmisere auf erstaunlichem Niveau.
An diesem Mittwoch wartet im Viertelfinale mit Novak Djokovic nun natürlich ein anderes Kaliber. Der Serbe ist die Nummer eins der Welt, er wirkt fit und konzentriert und bringt alles mit, um erstmals die French Open zu gewinnen. Er ist der Favorit, aber ich bin überzeugt davon, dass Tommy trotzdem eine sehr reelle Siegchance hat. Viele glauben, dass die Chancen von Djokovic steigen, je länger das Match dauert. Dieser Meinung bin ich nicht. Vielmehr halte ich Haas für fit genug, dass er fünf Sätze gehen kann, und ich möchte gern sehen, wie sich in einem fünften Satz die Stimmung drehen würde. Djokovic hat sein letztes Duell mit Tommy im März beim Masters in Miami verloren, da waren ähnliche äußere Bedingungen, und die Gedanken daran könnten schon eine Rolle spielen, wenn es eng wird.
Viele unken ja, dass Tommy mit seinen Fähigkeiten ein Grand-Slam-Turnier hätte gewinnen müssen. Für mich ist das hypothetisch. Fakt ist, dass er als junger Spieler nicht die mentale Stärke hatte, um bei den Saisonhöhepunkten ganz oben dabei zu sein. Die hat er jetzt, er macht sich nicht mehr so viel Druck, sondern genießt die Zeit, die ihm bleibt, und das macht ihn locker. Ich glaube deshalb, dass er diesen Grand-Slam-Titel, der ihm fehlt, noch holen kann. Vielleicht nicht bei den extrem kraftraubenden French Open, aber einen Wimbledonsieg traue ich ihm zu.
Und dann ist da ja noch die offene Aufgabe, meine Nachfolge als deutscher Sieger des Rothenbaum-Turniers anzutreten. Vom 13. bis 21. Juli nimmt Tommy in diesem Jahr wieder Anlauf dazu, und 20 Jahre nach meinem Erfolg in Hamburg wäre die Zeit dafür doch wirklich reif. Ich wünsche es ihm!