Manuel Charr kämpft am Sonnabend in Moskau gegen Weltmeister Vitali Klitschko um die Schwergewichtskrone - und um späte Anerkennung.
Moskau. Es war am 7. Juli in Bern, Wladimir Klitschko hatte gerade seine drei WM-Titel gegen Tony Thompson (USA) verteidigt, als Bernd Bönte die Beherrschung verlor. "Der Charr soll endlich aufhören, so devot zu sein. Sonst glaubt doch niemand, dass es ein ernsthafter Kampf werden wird“, sagte der Manager der Schwergewichts-Boxweltmeister Wladimir und Vitali Klitschko. Der Charr, mit Vornamen Manuel, hatte kurz davor in einem Liveinterview neben Vitali Klitschko gestanden, dem Mann, den er an diesem Sonnabend (22.45 Uhr/RTL) in Moskau herausfordert. "Herr Klitschko“, hatte er gesagt, "es ist eine große Ehre, dass ich gegen Sie antreten darf“, und er wirkte dabei wie einer, der es nicht einmal fertigbringen würde, auch nur einer Mücke etwas zu Leide zu tun.
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Nicht ganz zwei Monate später sitzt Manuel Charr in einer Gaststätte in der Kölner Südstadt und kann nicht verstehen, was an seinem Auftritt falsch gewesen sein soll. Er habe lediglich den Respekt ausdrücken wollen, den er für sein Vorbild empfindet. "Vitali ist ein großartiger Sportler und ein toller Mensch. Ich ziehe vor seiner Leistung den Hut“, sagt er. Trotzdem müsse sich niemand Sorgen darüber machen, dass er sich im Ring deshalb verstecken würde. "Es haben zuletzt viele versucht, die Klitschkos zu beleidigen oder große Töne zu spucken, und am Ende sind sie alle untergegangen. Hunde, die bellen, beißen nicht. Ich beiße lieber“, sagt er.
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Viele Menschen, die mit Manuel Charr zu tun hatten, müssen schmunzeln, wenn sie solche Aussagen hören, denn die meisten halten ihn für ein Großmaul, und tatsächlich ist es die Ambivalenz in seinen Aussagen, die den 27-Jährigen so schwer greifbar macht. Wenn er in anderen Interviews Sätze sagt wie "Vitali ist mein Fleisch“, dann wird das zweite Gesicht des Manuel Charr sichtbar. "Wir alle tragen manchmal eine Maske, hinter der wir unser wahres Ich verstecken“, sagt Charr, angesprochen auf derlei Widersprüche. Dass man ihm beispielsweise Verbindungen zur Rockerszene unterstellt oder seine Familie bisweilen als hoch kriminell bezeichnet wird, mache ihn traurig. "Ich weiß, dass die Leute viel reden. Aber ich urteile nicht über Menschen, die ich nicht kenne. Und das wünsche ich mir auch von meinen Mitmenschen: dass ich eine faire Chance bekomme, um zu zeigen, was für ein Mensch ich wirklich bin.“
Vitali Klitschkos Trainer Fritz Sdunek war zu gemeinsamen Universum-Zeiten auch Charrs Coach. Er sagt: "Manuel ist ein Träumer, der sich manchmal überschätzt.“ Auch wenn er überzeugt ist, dass sein früherer gegen seinen heutigen Schützling keine Chance haben wird, sagt er: "Manuel wird sein enormes Kämpferherz und seinen Willen unter Beweis stellen. Er kennt nur den Vorwärtsgang und hat nicht umsonst alle seine 21 Profikämpfe gewonnen. Er wird einen mutigen Kampf liefern.“
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Er hat ja auch nichts anderes gelernt in seinem Leben, der Mann, der im Oktober 1984 als Mahmoud Omeirat Charr in Beirut, der Hauptstadt des Libanon, zur Welt kam. Sein syrischer Vater fiel 1987 im Bürgerkrieg, die Mutter flüchtete zwei Jahre später mit dem Fünfjährigen und fünf seiner sieben älteren Geschwister nach Deutschland. Nach einem Jahr in Berlin kam die Familie nach Gelsenkirchen – und der Überlebenskampf in der kleinen Dreizimmerwohnung begann. Der Jüngste half beim Geldverdienen, er putzte die Scheiben von an Ampeln wartenden Autos oder stahl Obst, das er zu verkaufen versuchte. "Ich musste mich jeden Tag prügeln, um mich zu behaupten“, sagt er. Silvester verbrachte er die ersten Jahre im Keller, weil ihn das Knallen zu sehr an den Krieg in seiner Heimat erinnerte. Bis heute meidet er Dunkelheit, weil sie die Bilder aus dem Bunker in seinen Kopf zurückbringt. Bilder der vielen Toten, die er damals sehen musste. "Diese Bilder haben mich aggressiv gemacht“, sagt er.
Seine Rettung war das Jugendamt der Stadt, zwei Sozialarbeiterinnen und ein Psychologe, die er "drei Engel für Charr, nicht für Charlie“ nennt. "Ich hatte nur den Status eines Geduldeten, durfte keine Ausbildung machen, nicht arbeiten“, sagt er. Um seine Langeweile und die daraus entstehenden Aggressionen kanalisieren zu können, schickten ihn seine "Engel“ ins Sportinternat nach Duisburg. Dort kam er zum Kickboxen, und der Kampf nach Regeln wurde Charrs Einstieg in ein geregeltes Leben. Er wurde Kickboxweltmeister, ohne ein einziges Mal verloren zu haben, absolvierte zehn Amateurboxkämpfe unbesiegt und wurde 2005 Profi beim Berliner Sauerland-Team.
Sieben Kämpfe bestritt er, ehe seine Karriere jäh unterbrochen wurde. Mit seinen Stallkollegen Alexander Abraham, Marco Huck und Alexander Sipos geriet er in Berlin in eine Schlägerei, an deren Ende ein Mann mit einem Messer schwer verletzt wurde. Charr wurde unter Verdacht des versuchten Totschlags festgenommen und saß zehn Monate in U-Haft, bis er Ende 2007 aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde. "Es war die härteste Zeit meines Lebens“, sagt er. Ob er tatsächlich selbst zustach, und ob es Notwehr war, wie es hieß,darüber will er nicht mehr reden. Lieber spricht er über die Folgen seines Gefängnisaufenthaltes, den er dazu nutzte, um seine Mithäftlinge zu trainieren. "Im Knast habe ich gespürt, dass ich anderen Menschen Hoffnung geben konnte.“
Nach seiner Entlassung heuerte Charr in Hamburg bei Universum an, es war seine sportlich erfolgreichste Zeit, sein damaliger Manager Dietmar Poszwa hält ihn für "einen willensstarken und geradlinigen Typen, der sich immer tadellos benommen hat“. Als Universum im Sommer 2010 den TV-Vertrag mit dem ZDF verlor, wechselte Charr kurzzeitig zu Felix Sturm, war auch beim Hamburger EC-Stallaktiv, ehe er sich mithilfe von Investoren mit seiner "Diamond Boy Promotion“ in Köln selbstständig machte. Dort trainiert er in einer umgerüsteten Fleischerei mit seinen russischen Trainern Waleri Belov und Wardan Zakarjan.
Um auf sich aufmerksam zu machen, organisierte der 192 cm große Athlet im März dieses Jahres ein Dinnerboxen im Kölner Hotel Maritim, für das er sich mit 50.000 Euro verschuldete. "Ich habe sogar meinen Mercedes-Jeep verkauft, habe ohne Gage geboxt“, sagt er. Dass er auch seinem Gegner Taras Bidenko vom EC-Stall die Börse schuldig blieb und Hotelrechnungen für EC-Teammitglieder nicht zahlte, wirft EC-Chef Erol Ceylan ihm bis heute vor. Aber Charr will alles begleichen, sobald er sein Geld aus dem Klitschko-Kampf erhalten hat.
"Dieser Kampf“, sagt er, "ist die Chance, die ich brauche, um bekannt zu werden. Er ist der Lohn für viele Jahre Arbeit.“ Es gehe ihm nur am Rande ums Geld, seiner Mutter will er als Dank für ihren unermüdlichen Einsatz eine Einbauküche spendieren, seine Wohnung in Köln kann er dann endlich finanzieren, auch ein gutes Auto sei wieder möglich. "Aber letztlich geht es mir darum, es allen Kritikern zu zeigen, die nie an mich geglaubt haben.“ Charr zitiert den indischen Menschenrechtler Mahatma Gandhi, um seine Gefühle in Worte zu kleiden. "Erst ignorieren sie dich, dann lachen sie dich aus, dann bekämpfen sie dich, und am Ende gewinnst du“, sagt er. Davon sei er überzeugt. "Alle haben auf das falsche Pferd gesetzt. Am Ende gewinnt der arabische Hengst, mit deutscher Disziplin!“
Der Moslem, der "nichts fürchtet außer Gott“, fühlt sich längst als Deutscher, die deutsche Staatsangehörigkeit hat er beantragt. Er will sich als Weltmeister in der Politik engagieren, die Integration vorantreiben, sich für wohltätige Zwecke einsetzen, kurz: er will vieles so machen wie Vitali Klitschko. Dass er sein Vorbild dazu besiegen muss, gehört wohl zur Ambivalenz, die sein Leben darstellt.