Der Rekordweltmeister steckt in einem Umbruch. In der Heimat beäugt man den Wandel kritisch, der Titel 2014 im eigenen Land ist quasi Pflicht.

Rio de Janeiro/Stuttgart. Die Zahlen verblüffen: In einem Jahr 60 Spieler im Test, davon 29 ohne vorherige Länderspielerfahrung. Der Fußball-Riese Brasilien kommt als Lehrling zum Prestigeduell nach Deutschland, und entsprechend kleinlaut gibt er sich. „Unsere Spieler brauchen die Erfahrung gegen Gegner dieses Niveaus“, sagt Nationaltrainer Mano Menezes.

Am Mittwoch ist es exakt 365 Tage her, dass der Nachfolger des nach der WM-Pleite 2010 entlassenen Dunga den Neuaufbau des Rekord-Weltmeisters mit einem 2:0 in den USA begann. Acht Spieler sind vom Menezes-Debüt noch dabei, darunter die Hoffnungsträger Neymar, Paulo Henrique Ganso und Alexandre Pato. Die nominierten David Luiz (Knieverletzung) und Lucas Leiva (Rotsperre), Nummer neun und zehn auf dieser Liste, fallen für das Spiel in Stuttgart aus.

„Wir werden gegen starke Teams wie Deutschland messen, ob und in wie weit wir Fortschritte machen“, sagt der 49-Jährige, der auf dem Platz Disziplin einfordert, ansonsten seine Schützlinge im Gegensatz zu Dunga aber an der langen Leine führt. Dass der Plan auch Risiken birgt, zeigen die 0:1-Niederlagen gegen die Ex-Weltmeister Frankreich und Argentinien sowie das 0:0 daheim gegen Vize-Weltmeister Niederlande.

Nachdem dann auch noch der erste Härtetest im Vormonat bei der Copa America in Argentinien im Viertelfinale endete, beklagte Menezes bereits einen „Ergebnis-Terrorismus“ in den heimischen Medien: „Wir haben gegen Paraguay neun glasklare Torchancen herausgespielt. Hätten wir eine davon verwandelt, würden wir heute über unsere großartige Leistung und nicht über vier verschossene Elfmeter sprechen.“ Im Elfmeterschießen gegen den späteren Finalisten hatten die Brasilianer keinen einzigen Schuss verwandelt.

Die Suche nach einem Torjäger vom Kaliber eines Ronaldo oder Romario wird Menezes wohl noch lange beschäftigen. Für den Spielaufbau über die schwächere linke Seite hofft er, in dem Münchner Luiz Gustavo eine Lösung gefunden zu haben, „weil er im Spiel nach vorne Eigenschaften besitzt, die ein Rechtsfuß vielleicht nicht hat“, sagt Menezes, der auch dem Leverkusener Renato Augusto eine Chance geben will.

Gegen Deutschland läuft Phase II des Neuaufbaus an, die mit dem ersten Olympiagold bei den Sommerspielen 2012 in London enden soll. Und dann wird es mit dem Confed Cup 2013 im eigenen Land allmählich ernst. Dann endet auch die Reifezeit für Talente wie Neymar (19 Jahre), Ganso (22) oder Lucas (18), nach denen schon die europäischen Topklubs die Angel ausgeworfen haben, und die in der Selecao das „jogo bonito“, das schöne Spiel, wiederbeleben sollen.

„Wir müssen ihnen Zeit geben“, sagt Menezes und mischt deshalb mit den WM-Veteranen Julio Cesar, Maicon, Daniel Alves, Lucio, Thiago Silva, Ramires und Robinho die nötige Dosis Erfahrung hinzu. Nicht alle werden es bis zur WM-Endrunde 2014 am Zuckerhut schaffen.

Auch ein Ronaldinho, der mit neun Treffern die Torjägerliste in Brasilien anführt, oder ein Kaka haben das Kapitel Selecao noch nicht abgeschlossen. „Wir kennen ihre Fähigkeiten. Es gibt keinen Grund, sie zu testen“, sagt Menezes.

Im September geht es mit zwei Testspielen gegen Argentinien weiter, wobei die beiden Erzrivalen nur in der Heimat tätige Profis einsetzen werden. Im Herbst sind dann noch Duelle gegen Italien und Spanien geplant. Dann fehlen Menezes aus dem Kreis der Ex-Weltmeister nur noch Uruguay und England.