Am Sonntag vor einem Jahr starb der Nationalspieler vom HSV Hamburg nach zwei Chemotherapien an Hautkrebs. Er wurde nur 32 Jahre alt.
Hamburg. Der schönste Moment mit Oleg Velyky? Ich muss nicht lang zögern, um diese Frage zu beantworten. Es war im Dezember 2009, sieben Wochen vor seinem Tod. Ich stand auf dem Parkplatz des Hotels, in dem wir uns treffen wollten, es regnete. Wenn er gleich einen Parkplatz findet, können wir länger reden, dachte ich, also hielt ich den Platz für ihn frei. Dann bog er auch schon um die Ecke. Parkte den Wagen, stieg aus, dünn war er geworden. Aber irgendwie - stand ihm das. Und überhaupt lag etwas in seinem Blick, das ich dort noch nie gesehen hatte. Ich habe lange überlegt, was es war. Erst vor Kurzem kam mir der Gedanke: Vielleicht war Oleg einfach glücklich. Doch, so seltsam das klingt: Ich glaube, sieben Wochen vor seinem Tod war Oleg Velyky ein glücklicher Mensch.
Oleg hatte Krebs, das wusste ich. Es war der Grund dafür, dass wir uns sahen, im Herbst 2007 zum ersten Mal. 2008 trafen wir uns in Mannheim, dort, wo er vor seinem Wechsel zum HSV gespielt hatte. Er war mitten in der zweiten Chemotherapie. Außerdem war sein Kreuzband gerissen. "Was willst du über mich schreiben?", fragte er mich damals. Er verstand nicht, dass man eine Geschichte über einen Handballer schreibt, der keine Tore wirft. "Erzähl mir doch einfach vom Handball", sagte ich. Da schaute er mich sehr fragend an.
Oleg war immer ein Schweigen. Selbst wenn wir redeten. Ich bezog das anfangs auf mich, doch irgendwann merkte ich, dass es darum gar nicht ging. Journalisten nehmen sich manchmal sehr wichtig. Sich und ihre Geschichten. In diesem Fall hat mir Oleg gezeigt, wie unwichtig sie sind. Weil es nur eine gibt, die wirklich zählt - und das ist das Leben. Oleg war 32, als er am Sonntag vor einem Jahr starb. Zwei Tage später wurde ich 33. Es ist ein Geschenk, älter zu werden, das weiß ich seitdem. Und wer mir etwas anderes erzählt, dem erzähle ich von Oleg Velyky.
Oleg war der mutigste Mensch, dem ich je begegnet bin. Die letzten drei Jahre seines Lebens bestanden aus so vielen Rückschlägen, dass diese Seite nicht reichen würde, um sie alle zu schildern.
Was aber nichts mit dem Handball zu tun hatte. Ganz im Gegenteil. Den Handball liebte Oleg, seit er ein kleines Kind war. "Ich weiß noch", erzählte Oleg, "wie eines Tages ein Mann in unseren Sportunterricht kam, er sagte: Probiert doch mal!" Und Oleg probierte. Sprang und lief mit dem Ball, bis seine Augen so leuchteten, dass jeder wusste: Dieser Junge wird nie ein Fußballer. Ich mochte diese Geschichte so sehr, dass er sie mehrmals erzählen musste. Weil er dabei jedes Mal ein großes Lächeln im Gesicht trug.
Natürlich war er ein riesiges Talent. Er spielte in der Ukraine, schnell in der Nationalmannschaft. Bei der Handball-EM 2000 entdeckten ihn deutsche Vereine. 2001 wechselte Velyky von Saporischja zu TuSEM Essen, ein 24-jähriger Profi, der sich plötzlich vorkam wie der letzte Idiot. "Der Anfang war schwer", war der einzige Satz, den er dazu sagte. Er sprach ja kein Wort Deutsch, als er mit seiner Frau die Ukraine verließ. Nur auf dem Feld sprach er eine Sprache, die man überall verstand. Es war die Sprache des Siegers. Zu seinen guten Zeiten war Oleg Velyky auf seiner Position einer der besten Spieler der Welt. Wenn er den Ball in der Hand hielt, wenn er auf kleinstem Raum wendete, abhob und durch die Abwehrreihen des Gegners brach, dann war er nicht mehr zu halten. 2004 wurde er deutscher Staatsbürger, im Januar 2005 spielte er zum ersten Mal für die deutsche Nationalmannschaft - auch wenn ihm wegen der häufigen Verletzungen und Krankheiten nicht viele große Turniere vergönnt waren.
Im Januar 2008 unterschrieb Oleg einen Vertrag in Hamburg - bis zum 30. Juni 2011. Er war von den Rhein-Neckar Löwen zum HSV gewechselt. Aber erst im Juli, beim Trainingsauftakt zur nächsten Saison, traf er seine neuen Kollegen. Die trugen Trikots und Turnschuhe, Oleg kam in T-Shirt und Jeans. Als die Mannschaft einen Kreis um den Trainer formte, gab das ein Bild, das mich seltsam berührte. Später verstand ich, warum: "Es bereitet mir fast einen körperlichen Schmerz, dass ich das Trikot des HSV noch nie getragen habe", sagte Oleg. Und irgendwie - konnte man das spüren. "Ich sehe die Mannschaft spielen, ich möchte sie so gern unterstützen. Aber ich bin noch nicht so weit." Im Herbst 2008 sollte es so weit sein. Sein Kreuzbandriss aus dem Januar war verheilt, die Chemotherapie überstanden. Nur das Leben wollte es anders. Im Herbst 2008 kam der Krebs zurück. Zum dritten Mal seit 2003. Da hatte auch ich keine Worte mehr. In all dieser Zeit habe ich Oleg nie von Angst reden hören. Ich habe ihn auch nicht gefragt, vielleicht fehlte mir der Mut. Ich ließ ihn einfach erzählen. Von dem, was ihm wichtig war. Von Kataryna, seiner Frau, und Nikita, seinem Sohn. Zwei Menschen, die er über alles liebte.
Über den Krebs sprach Oleg selten. Man sah ihm ohnehin meistens an, wie es ihm ging. Zu jedem Heimspiel setzte er sich an den Rand des Spielfelds, die Hände leer auf seinem Schoß. In den Pausen ging er mit der Mannschaft in die Kabine. Seine Mitspieler, die mit den Bänderrissen und Rippenbrüchen, saßen ein paar Spiele lang neben ihm, dann standen sie wieder auf. Stürmten aufs Feld und fingen die Bälle. "Wie ist es, diesen Ball in der Hand zu halten?", fragte ich Oleg in dieser Zeit. "Das ist schwer zu beschreiben", sagte er und schaffte es doch. "Wenn man ihn fängt, dann bekommt alles eine Spannung. Der Körper und alles drum herum. Und man spürt, dass man sich das verdienen muss, diesen Moment auf dem Feld, das bekommt man nicht einfach so."
Manchmal kommt einem das Leben vor wie ein großes Spiel. Doch im Fall von Oleg Velyky reichte ein Spiel für das ganze Leben. Es war der 14. März 2009, das Spiel des HSV gegen Meister THW Kiel. Zum ersten Mal lief Oleg Velyky für seine Mannschaft auf den Platz. Was an diesem Tag mit ihm passierte, ist schwer in Worte zu fassen. Weil es der Tag war, das denke ich bis heute, an dem alles für ihn einen Sinn ergab - sein Kämpfen, sein Mut, seine Stärke. Als wir uns trafen, ein halbes Jahr später und sieben Wochen vor seinem Tod, da lag dieses Spiel in seinen Augen. Er hörte nicht auf, davon zu reden. Wie er auf den Platz lief, die ganze Halle sich erhob und die Menschen seinen Namen riefen, Hamburger und Kieler. Wie er stumm auf die Ränge blickte und nicht verstand, was da gerade passierte. "Sie riefen meinen Namen. Ich, der noch nie etwas für diesen Verein, für diese Stadt getan hatte." Oleg Velyky! So riefen sie, minutenlang. "Da habe ich plötzlich verstanden, wie wichtig ich diesen Menschen war. Wie ernst sie mich und meine Geschichte nahmen." Ich kann nicht mehr planen, meine Zukunft ist heute. Das waren die letzten Sätze, die ich von Oleg hörte. Meine Weihnachtsgrüße nach Kiew hat er nicht mehr beantwortet. Das hatte er immer getan. Trotzdem nahm ich an, dass es ihm gut ging. So ein glücklicher Mensch, dachte ich, der stirbt doch nicht einfach. Doch das tat er. Am 23. Januar 2010 starb Oleg Velyky im Kreis seiner Familie in Kiew.