Kurz vor Weihnachten verließ er mit seiner Familie Hamburg. In der Nacht zum Sonnabend starb er in Kiew an den Folgen seines Hautkrebses.
Innsbruck. Natürlich hat sich Heiner Brand die Frage gestellt, ob man einfach so weiterspielen kann. Ob es nicht angemessen wäre, innezuhalten unter dem Eindruck einer Nachricht, neben der die alltäglichen Sorgen eines Handball-Bundestrainers lächerlich klein erscheinen. Aber dann habe er sich gefragt, was sich Oleg Velyky, sein langjähriger Spieler, wohl gewünscht hätte. Und danach war er sich sicher: "Er hätte gewollt, dass wir spielen."
Und also ging die deutsche Nationalmannschaft gestern ihrer erste Hauptrundenaufgabe gegen Frankreich an wie jedes Spiel bei dieser EM: Videostudium am Morgen, ein Spaziergang durch die Innsbrucker Altstadt, dann Abfahrt zur Halle, das Übliche. Wie schwer der Tod Velykys auf den Spielern gelastet haben muss, konnte jeder ermessen, der sie am Tag zuvor im Mannschaftshotel erlebt hat. Viele hatten Tränen in den Augen, ihr Blick ging ins Leere. Sie waren geschockt von einer Nachricht, von der sie ahnten, dass sie irgendwann kommen würde, und die sie dann doch unvorbereitet traf.
Oleg Velyky, Profi des HSV Hamburg, war in der Nacht zum Sonnabend in seiner ukrainischen Heimat gestorben. Er wurde nur 32 Jahre alt. Die letzten sechs Jahre seines Lebens waren geprägt vom Kampf gegen den Hautkrebs. Er war im Herbst 2003 erstmals diagnostiziert worden. Zweimal schien es schon, als sei er besiegt. Zweimal kehrte er zurück. "Irgendwo hat man auf ein Wunder gehofft", sagte Brand. Doch nachdem im November auch eine letzte Bestrahlungstherapie abgebrochen wurde, weil sie nicht anschlug, gab es diese Hoffnung nicht mehr.
Als Velyky kurz vor Weihnachten mit seiner Frau und seinem sechsjährigen Sohn von Hamburg nach Kiew fuhr, ahnte er womöglich, dass es seine letzte Reise sein würde. Kurz zuvor hatte er seine HSV-Kollegen noch einmal im Training besucht. "Da hatte ich schon das Gefühl, wie soll ich sagen: Seine Zeit kommt", erinnert sich Mannschaftskapitän Guillaume Gille. Kämpfer ist das Wort, das keiner auslässt, der von Velyky spricht. Es betrifft sein Auftreten auf dem Spielfeld wie seinen Umgang mit der Krankheit.
Den Handball, den auf der Welt nur wenige so zu spielen verstanden wie Velyky, hat er bis zum Schluss nicht loslassen können und der Handball ihn nicht. "Ohne ihn würde ich sterben", sagte er einmal. Die wenige Energie, die ihm nicht die Therapie raubte, hat er investiert, um zumindest auf dem Feld ein Stück Normalität zu leben. Während der WM 2005, seinem ersten Turnier nach der Einbürgerung im April 2004, ließ er sich an den Ruhetagen Spritzen setzen, er war kaum ansprechbar, wie Brand sich erinnert: "Er wirkte wie jemand, der 40 Grad Fieber hatte."
Am nächsten Tag stand Velyky wieder auf dem Feld, er ordnete das deutsche Spiel, warf Tore, wie wohl nur er sie werfen konnte: wuchtig und doch präzise, Chancen nutzend, wo keine waren. Im selben Jahr führte er, obschon geschwächt von den Medikamenten, TuSEM Essen zum Europapokalsieg, sein erster und zugleich letzter Titel.
Oleg Velyky war ein Glücksfall für den Handball, aber der Handball brachte ihm kein Glück. Vor der EM 2006 stoppte ihn ein Kreuzbandriss. Den WM-Heimsieg 2007 erlebte Velyky nur auf der Tribüne, weil er sich kurz zuvor am Fuß verletzt hatte. Die EM im Januar 2008 konnte er endlich spielen, vier Minuten nur, dann riss erneut das Kreuzband. Es war sein 38. und letztes Länderspiel für Deutschland, 59 hatte Velyky für die Ukraine bestritten.
"Oleg war von keinem Rückschlag kaputt zu kriegen", sagt Pascal Hens. Der Hamburger Nationalspieler war dabei, als Velyky im vergangenen Mai sein letztes Comeback gab: kahlköpfig, die Gesichtszüge von der Chemotherapie gezeichnet. Velyky warf zwei Tore gegen Balingen-Weilstetten, seine ersten für den HSV, und die 7500 Fans in der Color-Line-Arena wählten ihn zum Spieler des Tages. Hinterher sagte er: "Das war wie ein zweiter Geburtstag für mich." Im September musste er den Ball endgültig aus der Hand geben. Der Krebs war zurückgekehrt, und diesmal ließ er sich nicht mehr besiegen. Velyky wird am heutigen Montag in seiner Geburtsstadt Browary, einem Kiewer Vorort, beigesetzt. HSV-Sportchef Fitzek wird der Zeremonie beiwohnen.
Die Solidarität zu Velyky geht beim HSV über den Tod hinaus. Der Verein hatte die Verträge so gestaltet, dass Velykys Familie künftig keine Not leiden muss. Als HSV-Präsident Andreas Rudolph vor der laufenden Spielzeit nach seinem größten Wunsch gefragt wurde, sagte er: "Ich hoffe, dass Oleg wieder gesund wird." Er ging nicht in Erfüllung. "Wir sind tief erschüttert", sagte Rudolph nach Erhalt der Todesnachricht. "Ich bin in meiner Trauer und mit all meinen Gedanken bei Olegs Familie." Rudolph versprach, Ehefrau Katarina und den sechsjährigen Sohn Nikita weiter zu unterstützen. Wie der HSV Oleg Velyky während seiner Leidenszeit begleitet habe, "war vorbildlich, ein großes Stück gelebter Menschlichkeit", sagte Ulrich Strombach, der Präsident des Deutschen Handballbundes. "Dafür gebührt Herrn Rudolph großer Dank."