Sie hat nur eine Chance: Eisschnellläuferin Claudia Pechstein muss heute Abend Achte werden, um nach Vancouver reisen zu können.
Salt Lake City. Triumphale Rückkehr oder Ende aller olympischen Träume: Claudia Pechstein steht an der Stätte ihrer größten Erfolge vor dem möglicherweise letzten, in jedem Fall aber dem wichtigsten Rennen ihrer 20-jährigen Karriere. Die Berlinerin weiß, was die Stunde geschlagen hat: „Ein Start, ein Rennen, eine Chance. Das ist eine Extremsituation, wie ich sie noch nie zuvor erleben musste.“
Beim Weltcup in Salt Lake City, wo sie vor knapp acht Jahren bei Olympia zwei Goldmedaillen abräumte, ist die Ausgangslage für die wegen auffälliger Blutwerte gesperrte 37-Jährige nach monatelangem juristischen Tauziehen verblüffend einfach. Wird sie im 3000-m-Rennen am Freitagabend (ca. 21.45 Uhr MEZ) mindestens Achte, hat sie die Olympianorm in der Tasche und darf weiter auf die Teilnahme an den Winterspielen 2010 hoffen. Belegt sie den neunten Platz, kann sie Vancouver abhaken.
„Ich lasse mich selbst überraschen, wie ich damit klarkommen werde. Es bleibt mir ja auch nichts anderes übrig. Zumindest ist es eine schöne Erfahrung, innerlich spüren zu dürfen, dass der Traum von meinen sechsten Olympischen Spielen nach wie vor lebt. Ich hoffe sehr, dass sich daran auch nach dem 3000-m-Rennen nichts geändert haben wird“, schrieb Pechstein, die nach der Startfreigabe durch das Schweizer Bundesgericht am Mittwoch in den Flieger gestiegen war, auf ihrer Internetseite (www.claudia-pechstein.de).
Selbst ihr langjähriger Trainer Joachim Franke, der sie zu allen fünf Olympiasiegen geführt hat und zuletzt wieder eng an ihre Seite rückte, ist alles andere als optimistisch. „Die Vorbereitungszeit ist extrem kurz, ihre Wettkampfpause war dafür umso länger. Ihr fehlt der realistische Vergleich mit der Weltspitze, für Platz acht muss sie wohl eine Spitzenzeit zwischen 4:00 und 4:02 Minuten laufen. Dies alles lässt mich skeptisch werden“, sagte der 69-jährige Franke, der in Berlin geblieben ist.
Pechstein, die in Salt Lake City direkt im ersten Paar des Wettkampfes starten muss und deshalb keinerlei Zeit-Orientierung haben wird, wird auf dem Eis von Helge Jasch betreut. Der deutsche Teamchef organisierte der Nachzüglerin mit Mühe noch ein Zimmer im eigentlich ausgebuchten Athletenhotel „Red Lion“ in Downtown Salt Lake City.
Es wird bei einem einzigen Start Pechsteins in Salt Lake City bleiben, nachdem das Schweizer Bundesgericht am Freitag den Antrag von Pechsteins Anwälten auf Starts über 1000, 1500 m oder im Team-Wettbewerb abgelehnt hat. Zugesagt wurde der wegen auffälliger Blutwerte gesperrten Berlinerin dagegen vom Gericht die Teilnahmeerlaubnis an allen Trainingsmaßnahmen für ihr Rennen auf der Olympiabahn von 2002.
Viele ihrer Kolleginnen empfingen Pechstein in Utahs Hauptstadt derweil mit tiefer Abneigung. Am extremsten zeigte dies die kanadische Bundestrainerin Ingrid Paul. „Ich bin überrascht, dass sie es wagt, hier überhaupt aufzutauchen. Alle werden sie total ignorieren. Meine Athletinnen werden respektlos mit Claudia Pechstein umgehen“, sagte Paul, eine niederländische Ärztin.
Viele Läuferinnen halten die erfolgreichste deutsche Winterolympionikin für eine überführte Dopingsünderin, ebenso wie es seit der Bestätigung ihrer Zweijahressperre durch den Internationalen Sportgerichtshof CAS auch Thomas Bach tut. Der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) steht möglicherweise vor einem Dilemma.
Der DOSB entscheidet am 17. Dezember und am 22. Januar, welche Athleten mit nach Vancouver fliegen. Gut möglich, dass Pechstein dann qualifiziert ist, aber ein Urteil des Schweizer Bundesgerichts noch aussteht. „Jetzt warten wir erstmal das Rennen ab, und dann sehen wir weiter“, sagte Bach am Donnerstag in Lausanne. Die endgültige Entscheidung, ob Pechstein zu den Spielen dürfte, liegt am Ende beim Internationalen Olympischen Komitee (IOC).
Dessen Präsident Jacques Rogge brachte im Gespräch mit der Tageszeitung Die Welt sogar eine mögliche Aberkennung von Pechsteins Olympia-Medaillen ins Gespräch. Es müsse genau beachtet werden, wann das angewandte Protokoll zum Langzeitblutprofil von Athleten vom Eisschnelllauf-Weltverband ISU zugelassen worden sei. „Wir können nur Konsequenzen für den Zeitraum ab der Zulassung ziehen, ab dem auch die Athleten wie Claudia Pechstein Kenntnis von der Zulassung ihrer Blutprofile bekommen konnten“, sagte Rogge.
Sollten Pechstein „in der Zeit ab der Zulassung des Protokolls abnormale Blutwerte nachgewiesen worden sein und Olympische Spiele in jenem Zeitraum gelegen haben, werden wir die Aberkennung der Medaillen prüfen“, sagte Rogge. Bach sagte dazu dem SID, dass sich der CAS beim Protokoll der Blutwerte bisher nur auf den Zeitraum nach den Olympischen Spielen 2006 in Turin bezogen habe. Möglicherweise könnten aber auch frühere Daten noch überprüft werden.
Darüber hinaus muss Pechstein möglicherweise mittelfristig vor einer Disziplinar-Kommission des IOC Rede und Antwort stehen. „Ich werde gegebenenfalls eine Disziplinarkommission einsetzen, die sich mit dem Fall beschäftigt, ähnlich wie es im Fall des Radrennstalls Telekom/T-Mobile und Jan Ullrich oder Balco geschehen ist“, sagte IOC-Präsident Rogge der Welt.