Der 53-jährige HSV-Trainer Martin Jol will die Bayern einholen, viele neue Spieler verpflichten. Und er erklärt, warum er sonntags nie Fußball spielen sollte. Bilder von Martin Jol. Bilder zur HSV-Historie.

Hamburg. Abendblatt:

Herr Jol, bedrückt es Sie, dass Sie mit dem 2:1 bei Schalke 04 womöglich die Entlassung ihres Landsmanns Fred Rutten besiegelt haben?

Martin Jol:

Ist das so? Was ich im Nachhinein nicht so gut fand, war, dass wir so gejubelt haben. Aber in diesen Momenten denkt man nicht daran. Rutten ist ein guter Trainer mit einem exzellenten Ruf. Innerhalb eines Monats hätte er wieder einen anderen Verein. Schlimm finde ich, dass er vielleicht nicht seine Ziele in Deutschland erreichen kann.



Abendblatt:

Sie haben auch in Tottenham schwierige Zeiten erlebt. Denkt man daran zurück?

Jol:

Das kann man nicht vergleichen. Ich habe drei Spielzeiten in Tottenham gearbeitet, da muss man zwangsläufig auch schlechte Perioden überstehen. Die Eigentümer wollten in der Champions League spielen. Am Ende war ich Opfer meines eigenen Erfolgs nach zwei fünften Plätzen. Das war aber angesichts der Konkurrenz von Chelsea, ManU, Liverpool und Arsenal fast unmöglich.



Abendblatt:

Wie sehr leiden Sie unter Niederlagen?

Jol:

Nicht mehr oder weniger als nach Siegen.



Abendblatt:

Wie bitte?

Jol:

Ich kann so schlecht entspannen, weil ich immer an das nächste wichtige Spiel denke. Ich hatte zum Beispiel gar nicht drauf, dass wir von den letzten elf Spielen acht gewonnen haben. Am Ende wird abgerechnet. Obwohl selbst dann die Gefahr bestünde, dass ich eine halbe Stunde erleichtert bin, aber dann das Leben wieder weitergeht.



Abendblatt:

Wenn Sie am Spielfeld mit verschränkten Armen dastehen, wirken Sie wie ein General. Sind Sie wirklich die Ruhe selbst?

Jol:

Ich muss doch während des Spiels analysieren und die Ruhe bewahren. Ich denke nur produktiv. Aber das sind sowieso nur Klischees. Vor fünf Monaten hat man gesagt: Der Jol ist gelassen, dann war ich in Istanbul plötzlich der große Jubler.



Abendblatt:

Sind Sie ein guter Verlierer?

Jol:

Ein schlechter. Aber was nützt es, wenn ich länger als einen Tag verärgert herumlaufe? Dann kommen wir nicht weiter.



Abendblatt:

Konnten Sie als Jugendlicher oder Spieler auch die Emotionen ausschalten?

Jol:

Vielleicht ist das so. Ich habe früher ziemlich hart gespielt, gerne mal sieben Gelbe Karten in sieben Spielen kassiert. Aber in meiner 18-jährigen Karriere habe ich nur einmal Rot kassiert, weil ich meinen Gegenspieler am Trikot gezogen habe und der mich ins Gesicht geschlagen hat. Ich bin nicht impulsiv, setze es vielleicht manchmal als Mittel ein, wenn es angebracht ist.



Abendblatt:

Wie haben Ihre Eltern Sie erzogen?

Jol:

Mein Vater ist ein Arbeiter, meine Mutter war Fußpflegerin und eine unglaublich liebe Hausfrau. Ich bin als Strandjunge aufgewachsen, 30 Sekunden vom Meer geboren, und habe viel von meiner Mutter mitbekommen.



Abendblatt:

Sie sollen ihr versprochen haben, dass Sie nie sonntags Fußball spielen.

Jol:

Das habe ich nicht, weil ich nicht lügen wollte. Meine Mutter wollte nicht, dass wir am Sonntag spielen. Ich ging morgens in die Kirche und mittags zur Sonntagsschule. Wir durften an diesem Tag nichts mit Geld machen, nicht zum Spiel gehen. Wir gingen mit der Familie spazieren, aber zum Strand durfte ich nicht, obwohl der nur 50 Meter entfernt war. Mit der U-15-Auswahl musste ich mal an einem Sonntag in meiner Stadt spielen. Das musste ich heimlich tun. Vielleicht hat sie das auch gewusst.



Abendblatt:

Sind Sie gläubig?

Jol:

Ja, das habe ich von meiner Mutter. Aber dass ich nicht immer zur Kirche gehe, habe ich von meinem Vater.



Abendblatt:

Beten Sie vor Spielen?

Jol:

Das ist privat.



Abendblatt:

Gut, lassen Sie uns über Fußball sprechen. Haben Sie Angst, dass mit Guerrero nach Olic der nächste Stürmer geht?

Jol:

Eine Sache müssen wir mal klarstellen: Es ist nicht nur so, dass der HSV sehr glücklich ist, wenn die Spieler bleiben wollen. Die Spieler sind sehr glücklich, dass sie beim HSV spielen dürfen. Wir im Verein bestimmen in Zukunft, ob die Spieler bleiben können. In Deutschland würden 95, 98 Prozent aller Fußballer gerne bei uns spielen. Der Rest geht zu den Bayern. Der HSV ist eine echte Adresse. Wenn ich das mal mit England vergleiche: Abgesehen von ManU, Liverpool oder Arsenal oder Chelsea gibt es keinen Klub, der der besser, schöner und größer ist.



Abendblatt:

Hand aufs Herz, hätten Sie diesen Erfolg für möglich gehalten?

Jol:

Dass es so gut laufen würde, konnte man auf keinen Fall voraussetzen. Denken Sie daran, dass wir elf neue Spieler seit August dazubekommen haben. Was mich ab und zu böse macht ist, wenn man so tut, als wären wir Bayern. Normalerweise hätten wir die Abgänge nicht kompensieren können. Aber viele Spieler wie Jarolim, Mathijsen, Rost, Jansen, Trochowski, Petric oder Olic und auch Guerrero übernahmen noch mehr Verantwortung.



Abendblatt:

Muss der HSV bald mehr riskieren bei Transfers?

Jol:

Wir müssen uns immer weiterentwickeln, dazu gehören natürlich die richtigen Transfers. Wir sind schließlich keine Zauberer. Wir können daran arbeiten, aber nicht voraussetzen, dass Spieler, die wir geliehen haben, sich zu unglaublichen Glücksgriffen entwickeln. Gravgaard oder Streit, die bei ihren Vereinen lange nicht gespielt haben, können nicht gleich aufspielen wie Beckenbauer oder Netzer. In Hamburg denken trotzdem manche, dass wir Meister werden müssen.



Abendblatt:

Wird es im Sommer wieder viele Wechsel geben?

Jol:

Bestimmt. Rechnen Sie mal nach: Zwei Spieler haben wir verliehen, vier geliehen. Der ein oder andere wird unzufrieden sein und will vielleicht weg. Oder es klopft ein Topverein an. Das ist normal. Dann müssen wir den nächsten Schritt machen. Ich glaube übrigens auch, dass Guerrero verlängert.



Abendblatt:

Alle reden von Titeln. Wie titelhungrig sind Sie?

Jol:

Ich bin sehr realistisch. Um etwas zu gewinnen, würde ich mein ganzes Vermögen dafür geben. Oder meinen kleinen Finger, zum Beispiel. Was mich enttäuschen würde, wäre, wenn wir Vierter werden, ein Finale verloren haben und die Leute sagen: Ihr habt eine schlechte Saison gespielt. Meine Mutter hat mich gelehrt, nie Angst vor etwas zu haben, sonst passiert es auch. Wir müssen immer positiv denken.



Abendblatt:

Womit würden Sie sich belohnen bei einem Titelgewinn?

Jol:

Der größte Gewinn wäre ein Titel. Das andere sind Illusionen. Ehre und Ruhm, Geld, alles Illusionen. Das Einzige, was mich glücklich macht, ist, wenn ich etwas für arme Kinder machen kann. Oder für unsere Fans, die auf etwas hoffen. Wobei: Hoffen, dieses Wort gefällt mir nicht wirklich. Ich will, dass sie bald wissen, dass wir etwas gewinnen, dass wir eine konstante Konkurrenz von den Bayern oder Bremen sind.