Bei der WM feierte er den größten Triumph seiner Karriere. Im Abendblatt spricht Andrea Barzagli über seine alte und seine neue Heimat.

Abendblatt:

Signor Barzagli, können wir das Interview auf Deutsch führen?

Andrea Barzagli:

Oje, lieber nicht. Mein Deutsch lässt noch sehr zu wünschen übrig. Ich nehme zwar Unterricht, aber ich tue mich ziemlich schwer. Zum Glück wohne ich in Wolfsburg, wo es viele Italiener gibt, die einem zur Hand gehen können.



Abendblatt:

Insgesamt sind es mehr als 6000. Wie viele von denen haben Sie schon zum Essen eingeladen?

Barzagli:

Gar keiner. Sie müssen wissen: Die Menschen hier sind sehr höflich, aber auch sehr diskret. Sie grüßen, aber sie wollen nicht unbedingt in dein Leben eindringen. Das war bei meiner letzten Station in Palermo sicher ein wenig anders.



Abendblatt:

Wie verständigen Sie sich denn mit Ihren Kollegen?

Barzagli:

Auf dem Feld ist es nicht schwer, sich zu verständigen. Eine Mischung aus Deutsch, Englisch und Italienisch, irgendwie geht das schon. Und dann gibt es ja noch Gesten. Aber ich gebe zu: Am Anfang war es nicht so leicht. Deutsche und Italiener haben doch etwas unterschiedliche Auffassungen ...



Abendblatt:

Wie meinen Sie das?

Barzagli:

Was den Fußball betrifft. Hier wird viel offensiver gespielt als in Italien, dem Land des Catenaccio. Dort wird mehr Wert auf die Defensive gelegt. In der Fußballausbildung lernst du zuerst das Verteidigen, dann den Angriff.



Abendblatt:

Das heißt, Sie haben es als Verteidiger in Deutschland nicht unbedingt leichter.

Barzagli:

Sicherlich nicht. Aber man kann sich daran gewöhnen.



Abendblatt:

Welcher Kulturschock ist für einen Toskaner der größere: Sizilien oder Norddeutschland?

Barzagli:

Zum Glück fühle ich mich überall wohl. Die größte Umstellung hier war sicherlich das Klima.



Abendblatt:

Sie sind aus Palermo nach Wolfsburg gewechselt. Dort sind zum Wochenende 15 Grad und Sonnenschein vorhergesagt ...

Barzagli:

In Palermo kann man es wirklich gut aushalten. Vor allem musst du nie schwere Mäntel tragen. Aber ich fühle mich auch hier sehr wohl. Um ehrlich zu sein: Ich vermisse Italien nicht sehr mit all den Problemen, von denen man im Fernsehen hört. Es scheint ein Land geworden zu sein, in dem man sich in einigen Städten nicht mehr sicher fühlen kann. Das scheint mir hier doch anders zu sein. Es gibt mehr Anstand, Regeln werden eher respektiert als in Italien.



Abendblatt:

Was wussten Sie über Wolfsburg?

Barzagli:

So gut wie nichts. Ich habe ein paar Erkundigungen eingeholt, bevor ich den Vertrag unterschrieben habe, war auch einen Tag hier. Was mich überzeugt hat, war, dass der Verein mich unbedingt haben wollte. Mich hat die Vorstellung immer fasziniert, eine andere Meisterschaft zu spielen. Wir Italiener neigen ja eigentlich nicht dazu, die Serie A zu verlassen.



Abendblatt:

Das scheint sich gerade zu ändern. Cristian Zaccardo spielt mit Ihnen in Wolfsburg, auch Bayern München hat mit Luca Toni und Massimo Oddo zwei Weltmeister im Kader ...

Barzagli:

... und Fabio Grosso ist zu Olympique Lyon gegangen. Toni erzählt, dass es ihm wohl ergeht, Grosso auch. Damit haben sie eine Tür geöffnet. Die italienischen Spieler sind heute aufgeschlossener gegenüber dem Ausland.



Abendblatt:

Auch weil die italienische Meisterschaft ihre Attraktivität eingebüßt hat?

Barzagli:

Ein wenig vielleicht, auch wenn es für mich immer noch eine der schönsten Meisterschaften ist. Aber schauen Sie einmal auf die Bundesliga: Da gibt es zehn starke Mannschaften, die um Meisterschaft, Champions-League- und Uefa-Cup-Plätze kämpfen. Vor der Saison hätte ich gesagt: Bayern ist Favorit. Jetzt gibt es viele. In Italien gibt es immer nur diese zwei, drei Vereine, die den Titel unter sich ausmachen. Da könnte es kein Hoffenheim geben und auch kein Wolfsburg.



Abendblatt:

Am Sonntag treten Sie beim Tabellenführer HSV an. Werden wir in dem Spiel den nächsten deutschen Meister sehen?

Barzagli:

Dafür ist es wohl noch zu früh. In jedem Fall ist es ein richtungweisendes Spiel. Hamburg könnte sich mit einem Sieg schon ein wenig absetzen. Wir dürfen nicht verlieren, um dranzubleiben.



Abendblatt:

Hätten Sie den HSV an der Spitze erwartet?

Barzagli:

Vor Saisonbeginn sicherlich nicht, da habe ich die Bayern vorn erwartet. Jetzt ist alles offen. Ob wir schon reif für den Titel sind, weiß ich nicht. Für eine so kleine Mannschaft wie die unsere wäre schon das Erreichen der Champions League ein Traum.



Abendblatt:

Ist "L'Amburgo" in Italien noch ein Begriff?

Barzagli:

Wenn du einen Juventus-Fan nach Magath und 1983 fragst, hat das sicher keiner vergessen. Aktuell sind die Bayern, Bremen, Schalke durch ihre Präsenz in der Champions League wahrscheinlich bekannter.



Abendblatt:

Sie haben an Hamburg gute Erinnerungen, 2006 haben Sie hier das WM-Viertelfinale gegen die Ukraine gespielt und gewonnen. Wo bewahren Sie eigentlich Ihre Goldmedaille auf?

Barzagli:

Die habe ich zu Hause in Florenz.



Abendblatt:

Träumen Sie manchmal noch von der WM?

Barzagli:

Wenn ich daran denke oder Bilder sehe, kommt dieses Gefühl, dieses Schaudern, diese intensive Erinnerung wieder hoch. Vielleicht waren wir uns als Mannschaft zunächst gar nicht dessen bewusst, was wir geleistet haben. Von dem, was in Italien los war, haben wir in unserem Hotel ja kaum etwas mitbekommen. Bei der Rückkehr wurden wir in Rom von einer Million Menschen empfangen. Das ist Geschichte, die bleibt. Und ich war einer von den 23, die es leben durften. Weltmeister zu sein - es fällt mir schwer, darüber zu reden, weil es mich noch immer sehr berührt. Es ist der Traum jedes Jungen, der mit dem Fußballspielen anfängt. Für fast alle bleibt es ein Traum, diesen Pokal zu berühren.



Abendblatt:

Ist es dieser Moment, an den Sie vor allem zurückdenken?

Barzagli:

Ich denke an die Gemeinsamkeit. Wir waren 50 Tage zusammen, Spieler, Betreuer, es gab nie Probleme, wir hatten Riesenspaß miteinander. Heute denke ich, dieser WM-Sieg war vor allem ein Sieg unseres Mannschaftsgeists. Natürlich war es auch ein Riesenstress. Ich glaube, jeder von uns hat in der Zeit fünf, sechs Kilo verloren. Aber wir haben davon nichts gemerkt.



Abendblatt:

Hat dieser 9. Juli 2006, der Tag des WM-Finales, Ihr Leben verändert?

Barzagli:

Das wäre zu viel gesagt. Im Jahr darauf hat es sicher manches erleichtert. Wo immer wir waren, waren die Türen weit aufgesperrt. Aber dass du Weltmeister bist, zählt nach ein paar Monaten auch nicht mehr, wenn die Leistung nicht stimmt. Es bleibt eine schöne Erinnerung, aber du musst dich immer aufs Neue beweisen. Der Fußball vergisst schnell: das Gute wie das Schlechte.



Abendblatt:

Hat es Sie geschmerzt, dass Sie im Endspiel nicht zum Einsatz kamen?

Barzagli:

Absolut nicht. Ich war froh, zu den 23 zu gehören. Ich war nun einmal der vierte Innenverteidiger, vor mir waren Klasseleute wie Cannavaro, Nesta, Materazzi ...



Abendblatt:

... was hat Letzterer doch gleich zu Zidane gesagt?

Barzagli:

Die beiden werden wohl ein paar Sprüche ausgetauscht haben (lacht). Aber um auf die andere Frage zurückzukommen: Ich habe zwei Spiele mitgemacht, und nicht ganz unwichtige: Achtel- und Viertelfinale. Dass ich im Endspiel nicht dabei war, war normal. Aber unabhängig davon: Jeder in dieser Mannschaft war ein Fan des anderen.



Abendblatt:

Was war der erste Gedanke am Morgen danach?

Barzagli:

Für zwei, drei Tage haben wir es noch gar nicht geglaubt. Wir waren neugierig auf das, was uns in Italien erwartet. Aber wir waren auch ein wenig traurig, unser Hotel in Düsseldorf zu verlassen, wo wir Schönes erlebt haben.



Abendblatt:

Die Profis verdienen heute mehr denn je. Glauben Sie, dass die Wirtschaftskrise auch auf den Fußballmarkt durchschlagen wird?

Barzagli:

Die Menschen gehen trotz der Wirtschaftskrise ins Stadion, sie schauen die Spiele an, sie kaufen sich die Trikots. Ich glaube, dass der Fußball ein so großes Business ist, dass er nicht von der Krise in den Abgrund gerissen werden wird. Aber natürlich: Wenn die Vereine weniger Geld haben, werden sie den Spielern auch weniger bezahlen.



Abendblatt:

Auch Volkswagen als Hauptsponsor des VfL ist nicht mehr auf Rosen gebettet. Ist man sich als Fußballprofi der Sorgen und Nöte der Fans bewusst?

Barzagli:

Ja. Wir Fußballer leben schließlich nicht auf einem anderen Planeten. Wenn es eine Krise gibt, nimmst du die auch wahr, auch wenn sie dich nicht unmittelbar betrifft. Wenn ich nach Hause komme, merke ich, wie glücklich ich mich schätzen kann. Nicht jeder meiner Freunde zu Hause hat so viel Glück gehabt wie ich. Aber das hat nichts an unserem Verhältnis geändert.