Siek. Das Konzept kommt auf allen Seiten gut an, die Pädagoginnen sind hoch motiviert. Aber es fehlt eine entscheidende Sache.
Einen Waldkindergarten, der alles hat – nur keinen Wald. Den gibt‘s tatsächlich, und zwar in Siek. Dass es zu einer dermaßen absurden Situation kommen würde, wäre Erzieherin Imke Radde und Pädagogin Steffi Reichert vor fünf Jahren nicht im Traum eingefallen. Ihr Ziel war ein moderner Waldkindergarten für Kinder ab drei Jahre. Dafür entwickelten die beiden Frauen ein Konzept, das sie der Gemeinde Siek vorstellten. Bürgermeister Andreas Bitzer berichtet, dass die Gemeindevertreter davon so begeistert gewesen seien, dass sie spontan ihre volle Unterstützung zugesichert hätten. Ein passendes Grundstück war schnell gefunden. Im Mai 2020 wurde der Kindergarten eröffnet. „Es fehlte nur noch eine Kleinigkeit: der Wald“, sagt Bitzer.
Denn ein Waldkindergarten lässt sich nun mal nicht auf der grünen Wiese umsetzen. In der näheren Umgebung von Siek sollte sich doch ein geeignetes Waldstück finden lassen, dachten sich die beiden Gründerinnen. Reichert betont: „Das hatten uns die Landesforsten zugesagt. Es hieß, das sei überhaupt kein Problem.“ War es aber doch, wie sich recht schnell herausstellte.
Siek: Waldkindergarten muss 40 Jahre auf seinen Wald warten
„Siek selbst ist sehr begrenzt, was Waldflächen anbelangt“, sagt Bürgermeister Bitzer. „Es gibt nur ganz wenige Bereiche mit Wald. Zum Beispiel im Sieker Moor, aber das ist Naturschutzgebiet.“ Dort konnte die Nutzung durch die Kindergartengruppe also nicht umgesetzt werden. „Und im Waldgebiet nahe Ahrensfelde ist die Lärmbelastung durch die Autobahn viel zu hoch.“
Ein geeignetes Gebiet liege zum Beispiel im Hainholz an der Straße Fuhrwegen. „Die Gruppe könnte direkt über den Waldweg dort hinkommen“, meint Bitzer. Auch der Großhansdorfer Wald wäre gut zu erreichen. Alternativen gäbe es also genug. „Am Anfang sind wir in den Lütjenseer Wald gefahren“, sagt Steffi Reichert. Ein Ausflug in den Wald ist allerdings etwas anderes als die regelmäßige Nutzung einer bestimmten Fläche. Dazu ist ein sogenannter Gestattungsvertrag erforderlich. Den haben Reichert und Radde bis heute vom zuständigen Revierförster Fritz Ole Wolter nicht erhalten – trotz aller Bemühungen.
Waldkindergarten Siek: Förster nennt Grund, aus dem die Kinder nicht in seinen Wald dürfen
„Die Gemeinde hat immer versucht, das Vorhaben zu unterstützen, und hat verschiedene Anläufe dazu unternommen“, sagt Bürgermeister Bitzer. Doch alle Gespräche führten nicht zum erhofften Ergebnis. Auf Nachfrage unserer Redaktion begründet Fritz Ole Wolter von der Försterei Lütjensee seine ablehnende Haltung so: „Wir sind mit vier Kindergärten und der Draußenschule der Grundschule in Lütjensee aktuell vor Ort bereits sehr ausgelastet.“
Laut Vertrag dürfe von dem Waldbestand, also den auf der jeweils zugeteilten Fläche wachsenden Bäumen, „nach bestem Wissen und Gewissen keine Gefahren für die Kinder und ihre Erzieher“ ausgehen. „Das nehmen wir selbstverständlich sehr ernst. Daher ist die Sicherheitskontrolle mit großem Aufwand verbunden.“ Laubholzbestände seien toll für Kinder, der Kontrollaufwand aber bedeutend größer als zum Beispiel in Nadelholzbeständen erforderlich. „Die Ergebnisse der Verkehrssicherungskontrollen können weitere Maßnahmen wie das Absägen von Ästen oder das Fällen von Bäumen nach sich ziehen. Hinzu kommt die Dokumentationspflicht der Maßnahmen.“
Siek: Ein Aufenthalt im Wald bietet den Kindern andere Möglichkeiten als eine Wiese
„Es gibt eine Verkehrssicherungspflicht, die liegt aber auch bei Imke und mir“, sagt Steffi Reichert. Als Waldpädagogen besuchen die beiden Frauen zudem regelmäßig Waldgefahrenseminare. Nach Ansicht von Reichert liegt es auch im Interesse der Landesforsten, Kindern den Lebensraum Wald zu eröffnen. „Wenn sie in dem Alter positive Erfahrungen damit machen, schützen sie ihn als Erwachsene.“
Radde erläutert, warum der Wald so wichtig ist: „Es gibt mehr Material zum Spielen und zum Hüttenbauen. Man kann die Jahreszeiten anders erleben.“ Im Wald sei es immer etwas kühler, es gebe andere Gerüche, Schatten, mehr Vielfalt. „Der Waldboden ist ganz uneben, das fördert den Gleichgewichtssinn und die gesamte Muskulatur.“ Die Geräuschkulisse sei gedämpfter. Das alles gebe es auf einer Wiese nicht.
Gründerinnen erhalten Genehmigung, auf dem Gelände einen Wald anzupflanzen
Dessen ungeachtet, sind sich beide sicher, mit ihrem jetzigen Standort die richtige Wahl getroffen zu haben. „Wir sind in Siek beheimatet, haben ein traumhaftes Stück Land, und die Gemeinde steht hinter uns. Das ist einfach großartig“, sagt Reichert. „Durch die Zusammenarbeit ist etwas ganz Tolles entstanden“, meint Bürgermeister Bitzer. Der Waldkindergarten sei ein gutes Zusatzangebot zur anderen Gemeindekita, denn: „Nicht jedes Kind ist in einer normalen Kita gut aufgehoben.“
Wenn wir nicht zum Wald kommen können, muss der Wald eben zu uns kommen, dachte sich Reichert, die sich nicht vom ursprünglichen Konzept verabschieden wollte. Ihre Versuche, über Stiftungen und Spenden Bäume zu bekommen, waren letztlich von Erfolg gekrönt. Vor eineinhalb Jahren bekamen die Gründerinnen die Genehmigung, auf ihrem Gelände einen heimischen Mischwald anzupflanzen.
An der Pflanzaktion beteiligten sich Kinder, Bürgermeister und Firmenmitarbeiter
Der Bürgermeister sagt: „Der Wald entsteht im südlichen Teil der Gesamtfläche der Wiese. So eine Anpflanzung muss genehmigt werden, denn da wird auch nie mehr etwas anderes als Wald angepflanzt.“ Die Stiftung Unternehmen Wald übernahm die Organisation, das Sieker Logistikunternehmen Sterac steuerte 800 Bäume bei.
„Etwa 25 Firmenmitarbeiter haben bei der Pflanzaktion geholfen“, so Reichert. Auch Bürgermeister Bitzer und ihre drei Söhne packten mit an. „Auch die Kleinen haben mitgeholfen. Ein Spatenstich quer rein und zack, so ging das“, sagt die Pädagogin. „Ich habe nicht geglaubt, dass wir das schaffen. Wir sind immer noch ganz beflügelt.“
Waldkindergarten Siek: Vom eigenen Wald werden künftige Generationen profitieren
„Für die Kinder war es eine spannende Sache mitzuerleben, wie die Bäume gepflanzt werden“, so Bitzer. Ihre Zeit in der Kita reiche zwar nicht aus, um einen richtigen Wald zu erleben. „Aber sie können ihren Kindern später zeigen, was sie selbst angepflanzt haben.“ Revierförster Wolter sagt: „Die Aufnahme weiterer Flächennutzer wäre sehr schwierig geworden. Daher freue ich mich, dass eine alternative Lösung vor Ort gefunden werden konnte.“
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Doch für Reichert und Radde ist das nicht die Lösung, sondern ein Projekt für die Zukunft. „Ich hätte gern für meine Kinder, die ich jetzt betreue, ein Stückchen Wald, in das wir hineindürfen. Bis aus unseren Bäumchen ein richtiger Wald geworden ist, kann es noch 40 Jahre dauern“, sagt Steffi Reichert, die ihre Bachelorarbeit über das Waldkindergarten-Konzept geschrieben hat. „Ich hätte gern meine Waldpädagogik. Aktuell gehe ich große Kompromisse ein. Naturpädagogik ist nicht das, was wir wollten.“ Mit Blick darauf, was sie und ihre Kollegin bislang schon erreicht haben, sagt sie dann mit einem Schmunzeln: „Aber wer kann schon von sich sagen, dass er einen ganzen Wald gepflanzt hat?“