Pinneberg. Sich in Boxstudios an Sandsäcken zu verausgaben, zählt zu den gefragtesten Hypes, um sich in Form zu halten. Wie kommt das denn?

Paff-paff…Paff-paff-paff: Der stickige Raum im Pinneberger Fitness-Studio „Legacy“ wird akustisch verdichtet durch die Schläge, mit denen Franziska Koopmann auf einen der von der Decke herabhängenden Sandsäcke eindrischt. Immer wieder, bis erste Schweißperlen auf der Stirn sich runden und die Muskeln brennen. „Mir gefällt das, mich durch dieses hemmungslose Draufdreschen auszupowern“, schwärmt die 39-Jährige und fügt hinzu: „Wer dabei nicht ins Schwitzen kommt, macht was verkehrt.“

Überhaupt der Sandsack: Symbol der Vergeblichkeit menschlichen Bemühens. Selbst arrivierten Faustkampfathleten gelingt es nicht, das rund zehn Kilo schwere, leder- oder kunststoffumhüllte Monstrum um mehr als ein paar lausige Zentimeter zu bewegen.

Fitness- oder Businessboxen: Wichtig ist das Gefühl der „Selbstwirksamkeit“

Gleichwohl bewirkt die Übung keinen Frust, sondern fördert das Gefühl für „Selbstwirksamkeit“, ein Terminus, der in der Sportwissenschaft gerade steil geht. Robert Wegener, Sportlicher Leiter im „Legacy“, sagt: „Kampfsportliche Workouts gehören mittlerweile zum Mainstream. Fitnessboxen trendet schon seit einiger Zeit.“ Sein Betrieb existiert seit rund zehn Jahren, liegt im tristen Hinterhof einer Reifenfabrik und wirkt wie die typische Kulisse eines „Rocky“-Films.

Kickboxen
Kampfsport-Trio im „Legacy“-Gym: Marco Staroschinski (von links), Franziska Koopmann und Mihaly Raicu. © Werner Langmaack | Werner Langmaack

Boxen in seiner Urform ist bekanntlich weniger darauf angelegt, seiner eigenen Gesundheit Gutes zu tun, sondern Gegnern Schaden zuzufügen. Um diesen entstehungsgeschichtlichen Hintergrund nicht gänzlich auszublenden, arbeiten sie im „Legacy“ zuweilen mit Poolnudeln, die sich die Kontrahenten buchstäblich um die Ohren schlagen und so eine Wettkampfsituation simulieren, ohne dass daraus eine ernsthafte Verletzungsgefahr erwüchse. Damit soll eine gewisse Balance erreicht werden zwischen kampfsportlichen und Fitness-Aspekten.

Boxen als Trend: Grenzen individueller, physischer Belastbarkeit werden wieder spürbar

„Wenn jemand bei uns zum Fitness- oder Businessboxen kommt, wollen wir ihn weder zur Weltmeisterin im Leichtgewicht noch zum Mister Universum im Bodybuilding formen. Unsere Trainer drillen ihre Schützlinge nicht, sie versuchen, ihnen technische Abläufe beim Boxen zu vermitteln.“ Wegener (40) selbst hat Sport studiert. Schon als kleiner Buttje wuchs in ihm die Gewissheit, dass es beruflich in Richtung Kampfsport gehen sollte. Der Kino-Blockbuster „Karate Kid“ hatte ihn damals getriggert.

Ein Grund für den Boom: Jobs, die mit starken körperlichen Belastungen einhergehen, sind in Zeiten hoch technisierter Wirtschaft rückläufig. Ein an sich löblicher Fortschritt, allerdings mit Kehrseite. Denn im Gleichschritt nehmen sogenannte Zivilisationskrankheiten zu, die in erster Linie aus Bewegungsmangel entstehen. „Im Boxstudio werden die Grenzen individueller, physischer Belastbarkeit wieder spürbar“, sagt Wegener.

Trendsport: Businessboxen wirkt auch mental

Aus Erfahrung könne er sagen, dass sich vor allem Männer, die „kampfsportaffin sind, aber keine Lust haben, sich Schwellungen im Gesicht zu holen“, in seinem Gym einfinden. Doch die Frauen rücken sukzessive nach – wie in so vielen gesellschaftlichen Bereichen. Beispielsweise Franziska Koopmann. Ihr ist aufgefallen, dass das Boxen nicht nur Ausdauer und Kraft steigert, sondern auch mental wirkt: „Die Hand-Augen-Koordination wird verbessert, man fühlt sich fitter im Kopf.“

Zweimal pro Woche geht sie in die Kampfsportbude, früher schaffte sie es doppelt so häufig. Aber ihre Jobs beim Finanzamt und als Tierheilpraktikerin schränken sie zeitlich mittlerweile stark ein. Zumal sie hin und wieder auch noch ein herkömmliches Fitness-Studio besucht, denn: „Ohne Sport kann ich nicht leben.“

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Kälteanlagenbauer Staroschinski an der Boxbirne: für ihn eine Reha-Maßnahme nach einem Herzinfarkt. © Werner Langmaack | Werner Langmaack

Den Satz würde Mihaly Raicu gewiss unterschreiben. Er absolviert wöchentlich vier Kurse. Dass im „Legacy“ gerade abends mächtig Betrieb ist, stört ihn nicht, es motiviert den 53jährigen Marketingfachmann vielmehr: „Von dieser Dynamik werde ich irgendwie mitgerissen.“ Speziell an Tagen, an denen er eigentlich schlecht drauf ist, spüre er unmittelbar einen positiven Schub, sobald er in den besagten Hinterhof einbiegt und die Eingangstür zum Gym sich hinter ihm schließt. Sportskameradin Koopmann stimmt ihm zu: „Das hier ist Stressabbau pur, von hier aus gehe ich immer mit einem Lächeln heim.“

Fitnessboxen ist auch etwas für Businesstypen

Sich auf einen ernsthaften Faustkampf im Seilgeviert einzulassen, käme beiden nicht in den Sinn – wobei Mihaly Raicu es mit dem Sparring durchaus mal probiert hat. Bald wurde es ihm aber zu heikel: „Ich kann ja nicht am nächsten Morgen mit einem blauen Auge bei den Meetings erscheinen.“ Daher wohl auch die Bezeichnung „Businessboxen“. Tatsächlich sind die Trainer im „Legacy“ angewiesen, strikt darauf zu achten, dass es zu keinen wüsten Kloppereien kommt und niemand mit Blessuren nach Hause geht.

Worauf man nicht unbedingt käme: Die Arbeit an Boxbirnen und Sandsäcken eignet sich sogar als Reha-Maßnahme. Marc Staroschinski (52) ist ein konkretes Beispiel: „Ich konnte nach einem Herzinfarkt nicht wieder zum Thai- und Kickboxen zurückkehren – die Belastung wäre zu groß gewesen.“ Das Fitnessboxen hingegen ermögliche es, Pensum und Vehemenz individuell anzupassen. „Es sind ja mehr Partnerübungen“, meint der gelernte Kälteanlagenbauer. Im Übrigen sei das Trainingsprogramm selbstverständlich mit seinem Kardiologen abgesprochen. „Beim Fitnessboxen“, sagt Sportchef Wegener, „steuert der Mensch autonom die Intensität des Trainings – entsprechend der eigenen, momentanen Verfassung.“

Der anspruchsvolle Sport kann auch in der Reha zum Einsatz kommen

Bei alldem gilt, dass Businessboxen nicht pauschal als Rehasport zu empfehlen ist. Dafür sind Dynamik und Anforderungen oft denn doch zu hoch. Seilspringen, Boxbirne, Pratzenarbeit: Das Reservoir an kraftzehrenden Übungen ist beachtlich. Die Kombination aus konditionsfördernden und explosiven Bewegungen, die Muskeln und Nervensystem fordern, setzt einen hohen Trainingsreiz. Darüber hinaus werden Koordination und Gleichgewichtssinn angesprochen.

Doch es geht weit über das rein Physische hinaus. Speziell für verunsicherte, ängstliche Charaktere, kann das ungezügelte Einschlagen beispielsweise auf einen toten Gegenstand wie den Sandsack zum „Gefühl der Selbstermächtigung“ führen, so Robert Wegener. Man fühlt sich widerstandsfähiger, verteidigungsbereiter.

Die ehemalige Rhönradturnerin Franziska Koopmann treibt noch ein ganz anderer Grund an. Fitnessboxen sei ihr wichtig und nützlich, gesteht sie, weil es als Ganzkörpertraining den Body in Form hält und hilft, „meine äußerliche Attraktivität beizubehalten“. Ein Argument, das sich umstandslos auf die Männerwelt übertragen lässt.