Leipzig/Itzehoe. Die Frau aus Quickborn wurde wegen Beihilfe zum Mord schuldig gesprochen. Warum das höchste deutsche Gericht ihre Revision verworfen hat.

Die ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard F. aus Quickborn ist wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen schuldig gesprochen worden. Der Bundesgerichtshof hat die Revision der mittlerweile 99 Jahre alten Frau gegen das Urteil des Landgerichts Itzehoe zurückgewiesen. Die dortigen Richter hatten Irmgard F. kurz vor Weihnachten 2022 nach einem spektakulären Prozess zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.

Die betagte Angeklagte, die heute in einem Altenheim in Quickborn lebt, war von 1943 bis 1945 rechte Hand des Lagerkommandanten im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig. Dort hielt die SS während des Zweiten Weltkriegs mehr als 100.000 Menschen unter schrecklichen Bedingungen gefangen. Etwa 65.000 starben nach Erkenntnissen von Historikern.

BGH bestätigt Urteil gegen KZ-Sekretärin Irmgard F. (99)

Das KZ Stutthof bei Danzig war berüchtigt für eine völlig unzureichende Versorgung der Gefangenen, die von den Verantwortlichen zu Tötungszwecken absichtlich herbeigeführt wurde. Es gab dort auch Gaskammern und eine Genickschussanlage, in der kranke und zur Zwangsarbeit nicht mehr fähige Gefangene systematisch und gezielt getötet wurden.

Was die heute 99-Jährige als gelernte Stenotypistin, damals 18 beziehungsweise 19 Jahre alt, im Vorzimmer des Kommandanten genau getan hat, blieb in dem 15 Monate langen Prozess vor dem Landgericht Itzehoe unklar. Die Angeklagte hatte die Aussage verweigert, lediglich in ihrem letzten Wort ihr Bedauern über das ausgedrückt, was in Stutthof geschehen ist.

Im Prozess blieb die genaue Rolle der Angeklagten im KZ-Schreibzimmer unklar

Und auch der von der Staatsanwaltschaft beauftragte historische Gutachter Stefan Hördler konnte nur allgemeine Dinge über die Rolle von Zivilangestellten in den Konzentrationslagern beitragen, jedoch nichts Konkretes über Irmgard F. selbst. Dokumente, die etwa von ihr geschrieben oder abgezeichnet waren, existieren nicht mehr.

Die Beweisaufnahme hatte 41 Prozesstage in Anspruch genommen, das Verfahren dauerte von September 2021 bis kurz vor Weihnachten 2022. Das Landgericht hatte für das Mammutverfahren, dem sich 30 Nebenkläger angeschlossen hatten, extra einen Gerichtssaal angemietet, der groß genug für die Vielzahl der Beteiligten war.

Ein Blick auf das ehemalige Konzentrationslager Stutthof, wo während des Zweiten Weltkriegs etwa 65.000 Gefangene unter unmenschlichen Bedingungen ums Leben kamen.
Ein Blick auf das ehemalige Konzentrationslager Stutthof, wo während des Zweiten Weltkriegs etwa 65.000 Gefangene unter unmenschlichen Bedingungen ums Leben kamen. © picture alliance/dpa/PAP | Jan Dzban

Acht Nebenkläger sagten vor Gericht persönlich aus, die meisten aufgrund ihres Alters per Videovernehmung. Nur einer konnte persönlich in Itzehoe erscheinen. Teile des Gerichts reisten extra nach Stutthof, um sich die dortige Gedenkstätte anzusehen, die auf dem Gelände des Konzentrationslagers entstanden ist.

Die beiden Verteidiger hatten am Ende des Verfahrens einen Freispruch gefordert, weil aus ihrer Sicht Zweifel blieben. Für eine Verurteilung sei ein Vorsatz seitens der Angeklagten erforderlich, dieser sei jedoch nicht zweifelsfrei festzustellen gewesen. Auch sei unklar geblieben, welche Kenntnisse die damals 18 beziehungsweise 19 Jahre alte Frau tatsächlich über die Gräueltaten im Lager hatte. Am ende stand dennoch eine Jugendstrafe für die Angeklagte.

Verteidiger hatten am Tag der Urteilsverkündung Revision eingelegt

Daher legte die Verteidigung Revision ein. Der Generalbundesanwalt selbst hatte daraufhin einen Termin zur Hauptverhandlung vor dem Bundesgerichtshof beantragt, weil die Revision der Angeklagten „grundsätzliche Fragen zur Strafbarkeit wegen Beihilfe zum Mord durch die Dienstverrichtung in einem Konzentrationslager, das nicht zugleich ein reines ‚Vernichtungslager‘ gewesen sei, aufwerfe“. Diese fand am 31. Juli vor dem 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in Leipzig statt, die Angeklagte musste nicht persönlich erscheinen.

Richter des Landgerichts Itzehoe und historische Experten besichtigten während des Prozesses das ehemalige Konzentrationslager in der Nähe von Danzig.
Richter des Landgerichts Itzehoe und historische Experten besichtigten während des Prozesses das ehemalige Konzentrationslager in der Nähe von Danzig. © picture alliance/dpa/PAP | Jan Dzban

Der Bundesgerichtshof hat sich bei seiner am Dienstag verkündeten Entscheidung auf die aktuellste Rechtsprechung gestützt, die zum Thema Beihilfehandlungen im Zusammenhang mit staatlich organisierten Massenverbrechen existieren. Sie stammen vom Bundesgerichtshof selbst.

Zu nennen sind etwa der Beschluss gegen einen ehemaligen Wachmann im KZ Auschwitz-Birkenau, den der Bundesgerichtshof im September 2016 gefällt hat. Diese Rechtsprechung, so heißt es vom Bundesgerichtshof weiter, sei nun fortgeführt und um den Fall Irmgard F. ergänzt worden.

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Da die Angeklagte nicht eigenhändig an einer Tötungshandlung beteiligt war, musste geprüft werden, ob die von ihr ausgeführte Gehilfentätigkeit die Tathandlung eines anderen zumindest gefördert hat.

Das Landgericht Itzehoe hatte dies bejaht – und der Bundesgerichtshof hält diese Entscheidung für rechtsfehlerfrei. Demnach half ihre Schreibarbeit dem Lagerkommandanten und dessen Adjutanten, mit denen Irmgard F. vertrauensvoll zusammenarbeitete, nicht nur physisch.

Mit der Zurückweisung der Revision ist der Rechtsweg ausgeschöpft

Sie unterstützte diese durch ihre Einordnung in den Lagerbetrieb als zuverlässige und gehorsame Untergebene auch psychisch bei der Begehung der 10.505 vollendeten und fünf versuchten grausamen Morde, die das Landgericht ihr zugerechnet hat.

Ihre Tätigkeit als einzige Stenotypistin in der Kommandantur war für den durchweg bürokratisch organisierten Lagerbetrieb von zentraler Bedeutung. Insoweit kam es laut dem Bundesgerichtshof nicht entscheidend darauf an, dass die Strafkammer am Landgericht nicht hat ausschließen können, dass einzelne Schreiben auch von anderen erstellt worden sein könnten.

Irmgard F. hatte von dem verbrecherischen Handeln ihrer Vorgesetzten Kenntnis erlangt

Irmgard F. habe zudem von dem verbrecherischen Handeln der von ihr unterstützten Haupttäter positive Kenntnis erlangt und sich durch ihre dennoch erbrachten Dienste gleichsam mit ihnen solidarisiert. Daher, so der Bundesgerichtshof, würden die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Straffreiheit von berufstypisch neutralen Handlungen mit „Alltagscharakter“ auf diesen Fall nicht zutreffen.

Mit der Entscheidung des höchsten deutschen Gerichtes ist der Rechtsweg ausgeschöpft, das Urteil gegen die heute 99-Jährige rechtskräftig. Der Fall galt als eines der letzten Strafverfahren zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Massenmorde.

Einer der beiden Verteidiger von Irmgard F., Rechtsanwalt Wolf Molkentin sagte, er bewerte es positiv, dass der BGH ein Grundsatzurteil gefällt habe. Seine Mandantin selbst war nicht nach Leipzig gekommen und hatte auch bei der Verhandlung in Itzehoe überwiegend geschwiegen. Nur in einem letzten Wort hatte sie gesagt, dass sie bereue, zu jener Zeit in Stutthof gewesen zu sein.

Nebenklagevertreter und Zentralrat der Juden werten Urteil als positiv

Anwälte der noch verbliebenen 23 hochbetagten Nebenkläger in dem Verfahren äußerten sich nach der Verkündung des Urteils zufrieden. Ihr in Israel lebender Mandat werde sicherlich erleichtert und froh sein, sagte Rechtsanwältin Christine Siegrot. „Er ist kein Racheengel. Es kam ihm immer weniger auf die Angeklagte persönlich an, sondern es kam ihm auf Transparenz an und es kam ihm darauf an, dass festgestellt wird, was in Stutthof wirklich passiert ist.“ 

Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, begrüßte die Entscheidung ebenfalls. „Das Rechtssystem hat heute eine klare Botschaft gesendet: Auch fast 80 Jahre nach der Schoa darf kein Schlussstrich unter die NS-Verbrechen gezogen werden. Mord verjährt nicht - weder juristisch, noch moralisch.“ (mit Material von dpa)