Pinneberg/Itzehoe. Witali W. (35) stach im Oktober in Pinneberg fünfmal auf einen Kontrahenten ein. Warum er dennoch wieder in Freiheit ist.
Die Verteidigung hatte einen Freispruch beantragt, ebenso wie die Staatsanwaltschaft: Doch die Schwurgerichtskammer des Landgerichts Itzehoe trug die Notwehrthese nicht vollständig mit.
Als Folge wurde der Angeklagte Witali W., der am 7. Oktober 2023 in Pinneberg vor einer Raucherkneipe einen Kontrahenten mit fünf Messerstichen beinahe tödlich verletzt hat, wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung schuldig gesprochen.
Landgericht: Angeklagter wird in Handschellen in den Gerichtssaal geführt
Und dennoch konnte der 35-Jährige, der seit dem 10. Oktober vorigen Jahres in Untersuchungshaft saß, das Landgerichtsgebäude nach der Urteilsverkündung als freier Mann verlassen. Denn obwohl eigentlich ein Strafrahmen von fünf bis 15 Jahren Haft anzuwenden gewesen wäre, lautete das Urteil auf ein Jahr Gefängnis, ausgesetzt zur Bewährung.
„Das ist eine äußerst milde Strafe, die wir für ein derartiges Delikt so noch nie ausgeurteilt haben“, so der Vorsitzende Richter Johann Lohmann. Möglich machten dies diverse mildernde Umstände, die die drei Berufs- und zwei Laienrichter zu Gunsten des Angeklagten werteten.
Messerattacke in Pinneberg vor einer Raucherkneipe am Fahltskamp
Der hatte am Abend des 7. Oktober die Raucherkneipe „Alo‘s“ am Fahltskamp in Pinneberg aufgesucht, nachdem er zuvor mit Freunden in Hamburg erhebliche Mengen an Alkohol getrunken hatte. „Wir gehen von sechs Cola-Mischungen mit Jack Daniels aus“, so der Vorsitzende Richter. Eine weitere „Mische“ habe der 35-Jährige im Anschluss zu Hause getrunken.
In der Kneipe kamen laut Feststellungen der Kammer weitere fünf Gläser Cola mit Whiskey hinzu. Im „Alo‘s“ hielten sich an dem Abend auch das spätere Opfer Gabriel M. (45) sowie dessen Lebensgefährtin auf. Während Gabriel M. an einem Spielautomaten stand, kam der Angeklagte kurz mit dessen Lebensgefährtin über belanglose Dinge ins Gespräch. Auf Russisch – einer Sprache, die Gabriel M. nicht beherrscht.
Der galt laut Richter Lohmann als extrem eifer- und streitsüchtiger Mensch – und drohte im Anschluss seiner Lebensgefährtin Schläge an, nachdem er zuvor wissen wollte, worüber die sich mit dem Angeklagten unterhalten hatte. Lohmann: „Der Angeklagte selbst suchte keinen Streit, setzte sich um, um zu deeskalieren.“
Dennoch habe Gabriel M. keine Ruhe gelassen, sodass die beiden Männer ein Streitgespräch vor der Kneipe führten. Dank der Vermittlung eines Ehepaars, ebenfalls Gäste der Kneipe, sei dieses gewaltfrei zu Ende gegangen.
Pinneberg: Messerstiche nach einer verbalen Auseinandersetzung
Das änderte sich, nachdem Gabriel M. – er hatte sich dem Verfahren als Nebenkläger angeschlossen – wenig später in der Kneipe einen anderen Gast anging und Witali W., der in der Nähe saß, eingriff. „Der Nebenkläger war auf den Angeklagten immer noch sauer und forderte ihn erneut auf, vor die Tür zu gehen“, so der Richter.
Dieses Mal waren beide Männer alleine. Es kam zunächst zu einer erneuten verbalen Auseinandersetzung, an deren Ende Gabriel M. abdrehte und wieder zurück in die Kneipe wollte. „In diesem Moment ist der Angeklagte falsch abgebogen“, so beschreibt es Lohmann.
Angeklagter hat das spätere Opfer vor dem Angriff provoziert
Obwohl Witali W. den ganzen Abend über einem Streit aus dem Weg gegangen sei, habe er nunmehr selbst den Kontrahenten provoziert. Er habe ihm auf Russisch zugerufen „Wohin gehst du, komm her“ und eine obszöne Masturbationsgeste gemacht.
Beides hatte der einzige Augen- und Ohrenzeuge der Auseinandersetzung dem Gericht berichtet. Es handelte sich um den Stiefsohn des Opfers, der am offenen Fenster einer Wohnung stand, die in Tatortnähe liegt. „Wir folgen der Aussage des Zeugen“, so Lohmann.
Stiefsohn des Opfers als einziger Augen- und Ohrenzeuge
Der Stiefsohn habe keine Belastungstendenz dem Angeklagten gegenüber gezeigt. Er habe vielmehr sogar seinen Stiefvater belastet, in dem er angab, dass der Beginn der gewaltsamen Auseinandersetzung von diesem ausging. Das Opfer selbst konnte sich daran nicht mehr erinnern – und der Angeklagte hatte in seinem Geständnis die provozierende Geste verschwiegen.
Laut Feststellung der Kammer stürzte sich Gabriel M. nach der Provokation auf den Angeklagten und schlug ihm mehrfach mit der Faust ins Gesicht, bis dieser zu Boden ging. Im Sitzen habe Witali W. dann das Messer aus seinem Kapuzenpullover gezogen und beim Aufstehen dem Kontrahenten in die linke Brust gestochen.
Richter: Angeklagter nahm Tod des Opfers billigend in Kauf
„Sie haben es dabei billigend in Kauf genommen, den Nebenkläger zu töten“, so Lohmann. Der 35-Jährige habe mit „bedingtem Tötungsvorsatz“ gehandelt. Dieser erste Stich, so urteilten die Richter, sei nicht vom prinzipiell vorhandenen Notwehrrecht des Angeklagten gedeckt gewesen. Der habe vielmehr Gabriel M. provoziert und auf diese Weise den Angriff mitverschuldet.
Lohmann sprach von einer sogenannten Vorsatzprovokation. Dadurch habe Witali W. nur ein eingeschränktes Notwehrrecht zugestanden, er habe jedoch mit seiner Reaktion „die Grenzen der Notwehr überschritten“. Ihm wäre es in diesem Fall zuzumuten gewesen, den Einsatz des Messers „zunächst anzudrohen“.
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Anders urteilten die Richter im Fall der kurze Zeit später folgenden vier Stiche, die Rücken und Oberkörper des Opfers trafen. Gabriel M. hatte trotz des ersten Stiches in die Brust den Angeklagten gepackt und in den Schwitzkasten genommen. „Sie mussten befürchten, nach hinten überzukippen und mit dem Kopf aufzuschlagen“, so der Vorsitzende Richter.
In dieser Situation und angesichts eines körperlich überlegenen Gegners habe Witali W. ein uneingeschränktes Notwehrrecht zugestanden, sodass diese Messerattacke straffrei sei, so das Gericht. Die Lebensgefahr für das Opfer, dem eine Niere entfernt werden musste und das nur dank einer Notoperation überlebte, sei durch einen Stich in den Rücken entstanden.
Stich in die Brust soll potenziell lebensgefährlich gewesen sein
Dennoch sei auch der Stich in die Brust, bei dem das Messer in die Brusthöhle eindrang, nach Meinung der Kammer potenziell lebensgefährlich gewesen. Dennoch handele es sich angesichts der Vorgeschichte um einen minderschweren Fall. Der Angeklagte sei zudem aufgrund seiner erheblichen Alkoholisierung (2,77 Promille) nur vermindert schuldfähig.
Für ihn spreche auch sein abgelegtes Geständnis und dass er lange nach einer friedlichen Lösung gesucht habe. „Die mildernden Umstände überwiegen“, so Lohmann. Daher komme der Angeklagte mit der äußerst milden Strafe davon.
Trotz des geforderten Freispruchs: Urteil soll nicht angefochten werden
Witali W., der noch aus der Haft von zwei Justizbeamten in Handschellen in den Gerichtssaal geführt wurde, konnte das Gericht nach der Urteilsverkündung am Mittwochnachmittag als freier Mann verlassen.
Sein Verteidiger Ole Baumann bezeichnete es anschließend trotz des geforderten Freispruchs als „unwahrscheinlich“, dass er das Urteil anfechten werde. „Das werde ich aber erst einmal mit meinem Mandanten besprechen.“