Quickborn. Historiker will jetzt Recherchen zum Torfabbau in der Kriegs- und Nachkriegszeit vorstellen: „Das Buch wird viel Neues enthalten.“
Die bewegende Geschichte des Quickborner Himmelmoores wird jetzt systematisch aufgearbeitet. Ein Historiker, den der Förderverein des Henri-Goldstein-Hauses beauftragt hat, will dazu im Januar 2025 die Ergebnisse seiner mehr als zweijährigen wissenschaftlichen Recherche in einem 300 Seiten umfassenden Buch präsentieren. Er werde darin die Geschichte des mit 600 Hektar größten Hochmoores Schleswig-Holsteins ebenso beschreiben wie den über Jahrhunderte betriebenen privaten und seit Ende des 19. Jahrhunderts industriellen Torfabbau, kündigt der Historiker Karsten Wilke an.
Dass dafür auch zahlreiche Kriegs- und Strafgefangene zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden, werde das Hauptthema seiner Arbeit sein, erklärt Wilke. Die Aufarbeitung des jüdischen Gefangenenlagers, das heute nach dem belgischen Insassen und Moorsoldaten Henri Goldstein benannt ist, sei durch die jahrelange Vorarbeit des Fördervereins bereits gut dokumentiert.
Gut 100 Jahre mussten Strafgefangene im Quickborner Himmelmoor Torf stechen
Dies gelte allerdings nicht für die Kriegsgefangenschaft der sowjetrussischen Soldaten im zweiten Weltkrieg, erklärt Wilke. Und auch der über 100 Jahre nur in der Kriegszeit unterbrochene fortwährende Einsatz von Strafgefangenen aus Neumünster, Lübeck, Rendsburg und Hamburg-Fuhlsbüttel, der bis in die 1980er Jahre andauerte, sei bislang kaum beleuchtet worden.
„Das Kapitel der Gefängnisarbeiter ist bislang hinter der Geschichte der Kriegsgefangenen zurückgeblieben“, erklärt Wilke. Zwischen 1880 und 1980 – vom Kaiserreich bis weit in die bundesrepublikanische Geschichte hinein - seien einige Tausend Strafgefangene aus den genannten Justizvollzugsanstalten zur „Zwangsarbeit“ des Torfstechens herangezogen worden, hat der Historiker bereits zusammengetragen. Das sei überwiegend unfreiwillig für die Strafgefangenen gewesen.
Schon in der Weimarer Republik mussten hier Sozialdienste abgeleistet werden
In den 1920er Jahren mussten hier auch Menschen ihren Sozialdienst ableisten, die in der Weimarer Zeit Sozialhilfe empfingen. „In Spitzenzeiten in der Nachkriegszeit der 50er Jahre waren das deutlich über 100 Strafgefangene, die hier den Torf abtragen mussten.“ Sie seien dabei vom Personal des Torfwerkes beaufsichtigt worden, das dabei sogar bewaffnet gewesen sei.
Leider müsse er sich bei dieser Aufarbeitung auf eigens recherchierte öffentliche Quellen berufen, bedauert Historiker Wilke. Das Torfwerk-Unternehmen mit Sitz in Neumünster, das erst im Jahr 2018 nach rund 150 Jahren den industriellen Torfabbau im Quickborner Himmelmoor beendet hat, habe alle seine Anfragen unbeantwortet gelassen. „Das ist sehr schade. Eigentlich könnte man nach so langer Zeit die Archive für die Öffentlichkeit und die Geschichtsschreibung öffnen.“ Auch der Förderverein habe keine Antworten dazu erhalten, bedauert Wilke. So könne er die Zahl die torfstechenden Strafgefangenen in diesen 100 Jahren nur auf einige Tausend Menschen schätzen.
Historiker Wilke: Zur Resozialisierung hat das Torfstechen nicht beigetragen
Möglicherweise hätten die Häftlinge diese schwere Arbeit des Torfstechens zum Teil sogar weitgehend freiwillig gemacht, um ihre Gefangenschaft nicht nur eingesperrt in der Zelle verbringen zu müssen, erläutert Wilke. Der manuelle Torfabbau versprach ihnen eine gewisse Abwechslung aus der Tristesse und einige Stunden in der freien Natur. Aber natürlich sei dies eine Strafe für die Gefangenen gewesen, so Wilke. „Der Resozialisierung der Gefangenen hat das Torfstechen aber mit Sicherheit nicht gedient.“ Darum sei dieser Einsatz mit den Strafgefangenen dann auch in den 1980er Jahren staatlicherseits abgebrochen worden.
Gerade für diese Arbeit von den 1950er bis 80er Jahre hinein fehlt es dem Historiker noch an weiteren aussagekräftigen Quellen, Fotos und Berichten von Zeitzeugen. Falls dazu noch jemand aus Quickborn und Umgebung dazu noch Informationen oder Dokumente in Händen habe, möge er sich bitte an den Förderverein wenden, E-Mail: info@henri-goldstein-haus.de
Der Historiker hofft noch auf private Quellen, Fotos und Dokumente
Für die Kriegsgefangenschaft der Moorsoldaten rechnet Wilke nicht mehr mit Zeitzeugen, die heute noch leben. Die Geschichte des Arbeitslagers 1416 des Nazi-Reichs, jenen Backsteinbau von 1935, in dem wohl 53 jüdische Kriegsgefangene vorwiegend aus Frankreich und Belgien untergebracht waren, sei recht gut dokumentiert. Wilke kann sich dabei auf die eingehenden Recherchen des französischen Historikers Christophe Woehrle stützen, der seine Arbeit dem Förderverein zur Verfügung gestellt hat. Auch Goldstein selbst, der hier knapp eineinhalb Jahre in Gefangenschaft war, hat ja darüber in seinen Memoiren berichtet.
Wesentliches Ergebnis der Analysen des promovierten Historikers Woehrle ist es gewesen, dass die jüdischen Kriegsgefangenen in Quickborn nicht anders behandelt worden seien als alle anderen ausländischen Kriegsgefangenen, die im Nazi-Reich inhaftiert waren. Auch sie seien hier nach der Genfer Konvention von 1929 inhaftiert gewesen, die eine gewisse humanitäre Behandlung der Kriegsgefangenen verlangte, betonte Woehrle auf Abendblatt-Nachfrage.
Die jüdischen Kriegsgefangenen überlebten, die sowjetischen nicht alle
Auch Historiker Wilke kommt zu dem Ergebnis, dass es keine Todesfälle in diesem jüdischen Arbeitslager gab. „Das ist insofern eine Besonderheit, weil zeitgleich Freunde und Angehörige dieser hier einsitzenden Gefangenen deportiert und ermordet wurden“, so Wilke. „Es lässt sich mit Sicherheit sagen, dass der Status als Kriegsgefangene und die Zwangsarbeit den Betroffenen das Leben rettete.“
Die sowjetischen Kriegsgefangen dagegen, die zur selben Zeit wie ihre jüdischen Leidensgenossen dort vornehmlich in Baracken untergebracht waren, hätten das schwere Torfstechen im Quickborner Himmelmoor nicht alle überlebt. Das wird durch die 15 Grabstätten von sowjetischen Kriegsgefangen auf dem Quickborner Friedhof anschaulich dokumentiert, erklärt Historiker. Wilke. Seine bisherigen Recherchen gehen davon aus, dass mindestens noch mal so viele russisch stämmige Gefangene im Himmelmoor zur Zwangsarbeit herangezogen wurden.
Vorsitzender Nuckel: Das Himmelmoor ist einzigartig für die Sozialgeschichte
Jens-Olaf Nuckel, der dem Förderverein vorsitzt, ist begeistert von der Arbeit des Historikers „Karsten Wilke arbeitet sehr akribisch und weitblickend. So haben wir uns das vorgestellt.“ Er zolle ihm großen Respekt für seine Arbeit, die mit 70.000 Euro vom Land unterstützt werde. „Wir haben es hier ja mit einem landesweit einzigartigen Kleinod zu tun, was die Natur-, Sozial- und Kriegsgeschichte angeht.“
Darüber hinaus habe der Förderverein von Land und Bund sowie der Stiftung Denkmalschutz 285.000 Euro erhalten, um das nun fast 90 Jahre alte, weitgehend im Originalzustand erhaltene Goldstein-Haus zu renovieren und für die Nachwelt zu erhalten. Das Dach, die Fenster und die Fassade müssten erneuert werden. Diese Arbeiten seinen bald abgeschlossen, erklärt Nuckel. „Am 8. September zum Tag des offenen Denkmals werden wir das Haus hoffentlich saniert der Öffentlichkeit wieder präsentieren können.“
Das Goldstein-Haus wird als offizielle NS-Gedenkstätte komplett saniert
Danach könnte der Förderverein im nächsten Jahr an mit der Sanierung und der Konservierung der Innenräume beginnen, in denen noch ein Teil der Betten und die Latrine vorhanden sind. „Dafür haben wir weitere 220.000 Euro Fördergeld bei Bund und Land beantragt.“ Die wissenschaftliche Ausarbeitung des Historikers Wilke, der dabei von der Historikerin Amelie Berking eifrig unterstützt wird, soll dann die wissenschaftliche Grundlage für eine Dauerausstellung der Kriegsgefangenschaft und ihrer Insassen im Henri-Goldstein-Haus sein, die möglichst 2026 eröffnet werden solle, erklärt Vorsitzender Nuckel.
Eine offizielle NS-Gedenkstätte Schleswig-Holsteins ist das Goldstein-Haus ja bereits. Und das Himmelmoor ist im vorigen Jahr zum Naturschutzgebiet erklärt worden, um dessen Erhalt sich die landeseigene Stiftung Naturschutz und mehrere Fördervereine in Quickborn ehrenamtlich kümmern.
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Der Historiker Wilke lebt in Bielefeld und arbeitet zurzeit an der Hochschule Düsseldorf, wo er über Rechtsextremismus forscht. Dies und die Aufarbeitung der NS-Geschichte seien seine Spezialgenbiete, erklärt der promovierte Historiker.