Kaltenkirchen. Haarsträubende Ermittlungsfehler: Satiresendung präsentiert Millionenpublikum unglaublichen Fall aus Kaltenkirchen.
Für die Polizeidirektion Bad Segeberg ist diese Ermittlungspanne wahrlich kein Ruhmesblatt. Und wer den Schaden hat, braucht sich um den Spott nicht zu sorgen: Am Donnerstag machte sich das ARD-Satiremagazin „Extra 3“ mit Christian Ehring vor den Augen eines bundesdeutschen Millionenpublikums über die Ermittler aus Segeberg lustig, in der Rubrik „Realer Irrsinn“. Doch der Fall taugt nicht nur zur Belustigung, sondern stellt die Ermittlungspraktiken mancher Polizeibeamter infrage. Ganz zu schweigen vom Steuergeld, das durch die Panne verloren ging.
Was war passiert? In ihrem Ursprung war die Sache nur eine Lappalie aus dem Verkehrsbereich. Thomas Wiegold in Berlin bekommt im August 2023 von der Polizeidirektion Bad Segeberg per Post eine „Verwarnung mit Verwarngeld/Anhörung“. Ihm wird vorgeworfen, am 15. Mai 2023, um 11.01 Uhr, in Kisdorf-Feld (Ortsteil von Kisdorf) auf der L 326 als Führer eines Kleintransporters die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften von hier 70 km/h um 7 km/h überschritten zu haben.
Extra 3: „Realer Irrsinn“ aus Kaltenkirchen
Eine Ordnungswidrigkeit, die mit einem Verwarngeld in Höhe von 20 Euro geahndet wird. Als Beweis dient das Foto eines Lasergerätes, darauf ist einigermaßen unscharf ein Mann mit Brille und wenig Haaren am Steuer zu erkennen. Im Übrigen steht in dem Bescheid: „Sie wurden durch die Polizei Kaltenkirchen ermittelt.“
Thomas Wiegold (64) ist bass erstaunt über den Bescheid. Der renommierte freie Journalist und Experte für Rüstungsfragen aus Berlin, 2012 Träger des Henri-Nannen-Preises für eine denkwürdige Spiegel-Recherche über den Verkauf von Leopard-2-Panzern nach Saudi-Arabien, kann sich nicht erinnern, jemals in Kaltenkirchen und schon gar nicht in Kisdorf-Feld gewesen zu sein.
Verwarngeld für einen Fahrer, der gar kein Auto hat
Zwar arbeitete er für die Deutsche Presse Agentur (DPA) in den 80er-Jahren mal als Korrespondent in Norddeutschland und vielleicht ist er da mal auf der Autobahn 7 auf der Fahrt von Hamburg nach Kiel an Kaltenkirchen vorbeigefahren. Mehr aber verbindet den seither in Berlin lebenden Journalisten nicht mit dem Land zwischen den Meeren.
Außerdem: Wiegold hat keinen Kleintransporter, noch nicht mal ein Auto. Ergo: Er war das schlicht und einfach nicht. Wer aber war es dann? Und warum, um Himmels willen, kommt die Polizeidirektion Bad Segeberg dann auf ihn? Das will der Investigativ-Journalist dann doch gerne genauer wissen.
Anwalt interveniert, Verfahren geht weiter
Er weigert sich, das Verwarngeld zu bezahlen und bekundet, dass alles ein Missverständnis oder eine Verwechslung sein muss. Als Antwort bekommt er wieder Post aus Bad Segeberg. Dieses Mal mit der Aufforderung, ein Bußgeld in Höhe von 48,50 Euro zu bezahlen. Jetzt nimmt sich Wiegold den Berliner Rechtsanwalt Sebastian Scharmer als Verstärkung.
Scharmer fordert die Akten in dem Fall an. Und das Aktenstudium deckt die haarsträubenden Ermittlungsfehler in diesem Ordnungswidrigkeitsverfahren auf.
Thomas Wiegold erfuhr, dass es in Oering einen Julian Wiegold gebe, auf den der fragliche Kleintransporter angemeldet ist. Dieser Wiegold betreibt einen Zerspanungsbetrieb für Prototypen und Großserien. Julian Wiegold wurde von der Polizei mit dem Vorwurf der Geschwindigkeitsübertretung konfrontiert. Doch Julian Wiegold hatte angegeben, dass er nicht der Mann auf dem Bild sei. Ein Abgleich mit einem Foto von ihm hätte das auch einwandfrei ergeben.
„Realer Irrsinn“: Zweifelhafte Recherche im Internet
Und daraufhin geschah etwas, das im Nachhinein geradezu absurd wirkt, ermittlungstechnisch aber nur als dilettantisch bezeichnet werden kann. Statt auf die naheliegende Idee zu kommen, dass einer der Mitarbeiter des Zerspanungsbetriebes mit dem Firmenwagen unterwegs gewesen sein könnte, soll nun eine Polizeibeamtin im Internet nach Thomas Wiegold gegoogelt haben, stieß auf Bilder des Journalisten, die aus ihrer Sicht einwandfrei zu den Aufnahmen der Radarfalle passten. Bingo, Fall gelöst!
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Doch auch auf erneutes Nachhaken von Wiegold und seinem Anwalt geht das Verfahren weiter. Die Polizei schiebt sogar neue Beweise nach, wonach Thomas und Julian Wiegold angeblich einen gemeinsamen Wohnsitz in Schleswig-Holstein gehabt haben sollen – was beide vehement abstreiten. Doch die Polizeidirektion hatte den Fall ohnehin längst an die Bußgeldstelle des Kreises Segeberg abgegeben, die hatte ihn geprüft und an die Staatsanwaltschaft Kiel und das zuständige Amtsgericht Bad Segeberg weitergereicht. Es soll zur Gerichtsverhandlung kommen.
Polizeidirektion Segeberg räumt Panne ein
Doch bevor der „reale Irrsinn“ seinen Höhepunkt erreicht, macht sich dann doch noch eine Polizeistreife zum Zerspanungsbetrieb nach Oering auf und will mal sehen, ob der Einwand des Anwalts Scharmer, wonach ein Mitarbeiter von Julian Wiegold am Steuer gesessen haben könnte, nicht doch zutreffen könnte. Und siehe da: Ein Mann aus dem Betrieb gibt sich als Fahrer des Transporters an jenem 15. Mai 2023, um 11.01 Uhr, zu erkennen.
Die Polizeidirektion musste schließlich die Panne einräumen. Es seien in der Ermittlungsarbeit Fehler geschehen, die sehr bedauert würden, teilt ein Sprecher mit. Die Internetrecherche von öffentlich zugänglichen Quellen könne für den Erkenntnisgewinn hilfreich sein. „Jedoch sollten für eine eindeutige Beweislage andere Quellen und weitergehende Ermittlungen erfolgen, um einen Sachverhalt rechtssicher bewerten zu können.“
Bleibt nachzutragen, dass die Ordnungswidrigkeit in Kisdorffeld vom 15. Mai 2023, um 11.01 Uhr, nicht geahndet wurde. Denn das Verwarngeld war nach drei Monaten bereits verjährt. Der Staat blieb also noch dazu auf den Kosten für das Verfahren sitzen.