Schleswig-Holstein. Er genießt das Leben in vollen Zügen: Lasse Stolley (18) wohnt in der Deutschen Bahn. Nur Schlafen ist nicht ganz so einfach.
- Seit Lasse die Bahncard 100 hat, steigt er nur noch zum Duschen aus dem Zug
- Sein Zimmer im Elternhaus hat er geräumt und nahezu seinen ganzen Besitz verkauft.
- Er entwickelt eine Software, die komfortabler als der DB-Navigator über Störungen informiert
Fast alle schimpfen über die Deutsche Bahn. Weil sie ständig verspätet fährt oder weil die Züge überfüllt sind oder sogar beides. Andere Menschen können vom Reisen auf Schienen gar nicht genug bekommen und fahren gern und oft. Einer von ihnen ist Lasse Stolley. Er lebt buchstäblich in der Bahn, schläft und arbeitet dort. Und das schon seit zwei Jahren.
Seitdem er eine Bahncard 100 besitzt, steigt der 18-Jährige nur selten aus. Höchstens, um in einem Schwimmbad zu duschen oder um im Supermarkt Lebensmittel einzukaufen. Oder um sich Sehenswürdigkeiten anzusehen und sich bei Stadtrundgängen Bewegung zu verschaffen. Auch Wandern in den Bergen gehört zum Sportprogramm. Zu Hause ist Lasse Stolley im Zug, er bereiste mit einem Interrail-Ticket drei Monate lang auch andere europäische Staaten.
„Ich bin frei!“: Lasse Stolley wohnt seit zwei Jahren im Zug
Auf seiner Homepage und in den sozialen Medien zeigt er Fotos von der norwegischen Eisenbahn nördlich des Polarkreises, von einem Nachtzug in der Türkei und von der Fahrt über Ljubljana und Budapest ins bulgarische Sofia. Wer so wohnt, hat Zeit zum Arbeiten. Lasse Stolley bezeichnet sich als digitalen Nomaden, der überall mit seinem Laptop arbeiten kann.
Sein Geld verdient er als Softwareentwickler für Apple-Apps. Im Juli hat er sich mit dem Job selbstständig gemacht. Stets dabei hat Lasse Stolley einen Rucksack mit allem, was er zum Leben braucht: Wäsche, Laptop und Hygieneartikel, Besteck, Ladekabel und Mülltüten. Pro Woche bringt er etwa 10.000 Kilometer hinter sich, 700.000 sind es bisher insgesamt. Zum Mond sind es annähernd nur halb so viele.
Lasse Stolley ist in Fockbek bei Rendsburg aufgewachsen und lebt seit dem Sommer 2022 auf Schienen. Sein Zimmer im Elternhaus hat er geräumt und nahezu seinen ganzen Besitz verkauft. Wie kommt ein junger Mann auf die Idee, nach dem Mittleren Schulabschluss in ein Verkehrsmittel umzuziehen, das vielen anderen Fahrgästen mit Ausfällen, Verspätungen und proppevollen Zügen den letzten Nerv raubt?
Angefangen hat alles kurz vor den Sommerferien des Jahres 2022 mit einer Drei-Minuten-Reportage, die der damals 16-Jährige im Frühstücks-TV gesehen hat. Darin ging es um einen Bahnfahrer, der ebenfalls im Zug lebte. „Diese Idee habe ich damals abgespeichert“, sagt Lasse Stolley. Als er dann nicht die Ausbildung als Programmierer bei einer Firma antreten konnte, für die er gern gearbeitet hätte, besann er sich auf die Idee vom Wohnen im Waggon.
Eltern reagierten skeptisch auf die Idee ihres Sohnes
„Meine Eltern standen der Idee sehr skeptisch gegenüber“, berichtet Lasse Stolley, doch irgendwann hatte er die 2688 Euro bei einer Sonderverkaufsaktion für die Bahncard 100 zweiter Klasse durch Minijobs als Softwareentwickler zusammen, fuhr los und stieß auf unerwartete Schwierigkeiten. „Am Anfang hat nichts funktioniert“, sagt der junge Mann.
Als eine der größten Herausforderungen stellten sich zu Beginn seines Nomadendaseins die Nächte heraus. Der Grund: Die Züge wurden immer voller, auch nachts war kaum noch an Schlaf zu denken – nicht einmal auf den Gepäckablagen, die er mit einer Luftmatratze ausstaffierte und dort schlafen wollte. Inzwischen verbringt er besonders gern die Nacht in einem der wenigen ICE, die dann unterwegs sind und quer durch Deutschland rasen. „Mit ein wenig Übung lässt es sich in diesen Zügen ziemlich gut schlafen“, schreibt Stolley heute. Ohrhörer mit Geräuschunterdrückung sind dabei eine nützliche Anschaffung.
Unterwegs mit der Bahncard 100: Minimalismus im Rucksack
Angefangen hat er mit einem 60-Liter-Rucksack. Jetzt müssen 30 Kilo reichen. Das Leben im Zug gebe ihm die Freiheit, jederzeit entscheiden zu können, wohin er gerade fahren möchte. „Ich reise von Ort zu Ort, treffe Freunde, besichtige Städte oder nehme an Events teil“, sagt der 18-jährige. „Aus einem Überfluss an Besitz wurde Minimalismus“, schreibt Stolley auf seiner Homepage.
Und weiter: „Der Rucksack muss in allen erdenklichen Situationen funktionieren, egal ob in den Bergen beim Wandern, in der Großstadt bei einem Spaziergang oder im Nacht-ICE.“ Vor einem Jahr ist Stolley auf die Bahncard 100 erster Klasse umgestiegen und genießt seitdem den Komfort, stets einen Sitz- und Schlafplatz zu finden.
Für wenige Tage ist Lasse Stolley zu Hause bei seinen Eltern im Holsteinischen und will am Freitag mit einer neuen Bahncard 100 erster Klasse auf Schienenkreuzfahrt gehen. „Ich bin aufgeregt“, gesteht er. „Ich freue mich auf die Freiheit, dort hinzufahren, wohin ich will.“ Auch seine Lieblingsstrecke will er wieder besuchen: das Gleis zwischen Frankfurt am Main und Köln am rechtsrheinischen Ufer mit Blick auf den Fluss, Burgen und Weinberge.
Dann wird wieder kostenlos in den DB-Lounges gegessen, die einem Besitzer mit einer Bahncard 100 jederzeit offenstehen. „Das ist nicht immer toll, aber man wird satt“, sagt Lasse Stolley. Zwar kann er verstehen, dass die halbe Republik auf die Bahn schimpft, doch der junge Profi-Bahnfahrer tourt meistens entspannt durch die Republik.
Lasse Stolley: Das größte Problem der DB ist die Kommunikation
Er schätzt das dichte Netz und die enge Taktung im deutschen Bahnverkehr im Vergleich zu vielen anderen europäischen Staaten. Doch wer wie Stolley keine Termine beachten muss und sich bei Verspätungen und Ausfällen schlichtweg für einen anderen Zug als geplant entscheiden kann, dem bereitet das deutsche Sorgenkind DB keinen Stress. Ohnehin hält er nicht die Überlastung für das größte Problem, sondern die Kommunikation.
Daran will er als erfahrener Bahnfahrer mit Programmiererfahrung jetzt selbst arbeiten und entwickelt eine Software, die komfortabler als der DB-Navigator über Störungen informiert und Alternativen für den Reisenden präsentiert. Ein Teil der Entwicklung findet wahrscheinlich fern vom deutschen Schienennetz statt. Stolley kauft sich für den Herbst erneut ein Interrail-Ticket und will über die Türkei bis nach Baku in Aserbaidschan fahren und außerdem den Balkan bereisen.
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Der Aufmerksamkeit durch Medien darf er sich gewiss sein. Nahezu täglich rufen Journalisten bei ihm an und wollen über sein ungewöhnliches Leben berichten. Dazu gehören viele Fernsehsender, die „Süddeutsche Zeitung“, der „Stern“ sowie der „Guardian“ und „Le Figaro“. Ob er sich 2025 erneut eine Bahncard 100 kaufen wird, hat Lasse Stolley noch nicht entschieden. Er denkt auch über eine Weltreise nach – natürlich mit der Eisenbahn.