Kreis Segeberg/Kreis Pinneberg. Der Kampfmittelräumdienst appelliert an Bürger, verdächtige Flächen zu melden. Welche Städte und Gemeinden besonders gefährdet sind.

Je länger die Blindgänger im Boden liegen, desto mehr geraten sie in Vergessenheit, desto mehr wächst aber auch die Gefahr. Immer noch liegen viele Bomben und Granaten im Boden versteckt, die bei den Lufangriffen und Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs nicht explodiert sind. Um diese brisanten Altlasten zu finden und zu entschärfen, bittet der Kampfmittelräumdienst jetzt um Informationen aus der Bevölkerung.

Die schwersten Bombenangriffe in Schleswig-Holstein erlebte Kiel als Standort der Marine und der Werften. Doch auch in den Kreisen Segeberg und Pinneberg vermuten die Spezialisten noch viele unentdeckte Blindgänger. Dazu zählen insbesondere die Orte Elmshorn und Schnefeld bei Hamburg sowie Wedel, das die Piloten bei dem Luftangriff am 3./4.März 1943 für Hamburger Stadtgebiet hielten und dort erhebliche Verwüstungen anrichteten.

Immer noch gefährlich: Wo liegen Blindgänger aus dem Krieg?

Auch Kaltenkirchen gehört zu den Orten, in der noch viele Blindgänger vermutet werden. Besonders schwer traf ein Luftangriff den Flughafen der Wehrmacht am westlichen Rand der Stadt am 7. April 1945, also kurz vor Kriegsende. „Der Flugplatz war nicht mehr stark geschützt und ein leichtes Ziel“, sagt Kai Jensen, Luftbildauswerter beim Kampfmittelräumdienst des Landes Schleswig-Holstein.

Blindgänger
Luftbildauswerter Alan Bock vom Kampfmittelräumdienst analysiert Aufnahmen der Alliierten. © LKA SH | LKA SH

Ab 13.26 Uhr wurden innerhalb kürzester Zeit über 400 Tonnen Bomben über Kaltenkirchen abgeworfen. Jensen: „Der Flugplatz, Gebäude und Flugzeuge wurden damit zerstört, und die Nutzung des Flugplatzes damit auch.“ In den 1960er- Jahren hat der Kampfmittelräumdienst die Flächen bereits untersucht und mehr als 150 Blindgänger gefunden und entschärft.

Die Luftangriffe auf Helgoland richteten ebenfalls schwere Schäden an. Auch kleine Gemeinden auf dem Festland wurden von den Alliierten bombardiert, sodass dort Blindgänger zu vermuten sind. Dazu zählen in den Kreisen Segeberg und Pinneberg die Orte Alveslohe, Appen, Großenaspe, Halstenbek, Heist, Hetlingen, Negernbötel, Nützen, Prisdorf und Uetersen.

Zehn bis 15 Prozent der Bomben explodierten nicht

Die Angriffe richtete sich im Norden in erster Linie gegen die Infrastruktur. Dazu zählten Raffinerien, Öltanklager, Munitionsfabriken und Bahnknotenpunkte. Wie viele explosive Altlasten in Schleswig-Holstein noch im Boden liegen, weiß niemand. Die Zahl dürfte jedoch hoch sein: Zehn bis 15 Prozent der gewaltigen Bombenmengen sind nicht explodiert, sagt Jensen.

Gemeinsam mit 13 Kollegen überprüft er Aufnahmen britischer und US-amerikanischer Luftaufklärer, die die bombardierten Gebiete nach einem Angriff überflogen haben. Ein Krater zeigt eine Explosion, ein eher unscheinbarer Punkt den Aufschlag einer Bombe, die nicht explodiert ist. „In den bombardierten Gemeinden kann es überall zu Funden von Brand- und Sprengbomben kommen“, sagt Jensen. Außerdem seien Flächen mit Munition belastet, die im Krieg militärisch genutzt wurden. Dazu zählen Munitionslager, Flakstellung oder Übungsgelände.

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Luftbildauswerter Kai Jensen sucht auf den alten Karten nach Hinweisen auf Blindgänger. © LKA SH | LKA SH

Den Spezialisten des beim Landeskriminalamt angesiedelten Kampfmittelräumdienstes stehen umfangreiche Recherchemöglichkeiten zur Verfügung. Dabei nutzen sie die umfangreichen Dokumentationen der britischen und US-amerikanischen Luftwaffe. Darin steht beispielsweise, wann wie viele Flugzeuge mit welcher Beladung zu welchem Ziel geflogen sind, welche Typen von Bomben an Bord waren und wie sie gezündet wurden.

„Einige Berichte dokumentieren sogar die Bordcrew und ihren Piloten“, sagt Jensen. Auch die Wetterverhältnisse inklusive Angabe zu den Winden und die Uhrzeit der Angriffe sind in den Dokumenten verzeichnet. Weitere Informationen stammen von der deutschen Luftschutzpolizei, die in Nazi-Deutschland aufzeichnete, aus welcher Richtung die Bomber kamen, wie viele es waren und welche Zerstörungen sie verursacht haben.

Die Luftbildauswerter nutzen 90.000 Fotos aus dem Krieg

Bei der Luftschutzpolizei konnten Bürgen die Schäden an ihren Gebäuden melden. „Auch diese Berichte liegen uns heute vor, und wir nutzen all diese Informationen, um zu einem möglichst umfangreichen Ergebnis unserer historischen Recherche zu kommen“, sagt Jensen.

„Wir besitzen über 90.000 Kriegsluftbilder aus den Jahren 1939 bis 1946“, sagt Jensen. Damit lassen sich auch die Gefahren durch Blindgänger auf einzelnen Grundstücken analysieren. Außerdem sind die Bilder chronologisch geordnet. „So kann eine Luftbildauswertung eventuelle Kriegsschäden dann den passenden Angriffen zuordnen.“

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So sehen Fliegerbomben nach einer Entschärfung aus. © LKA SH | LKA SH

Bomben und Munition sind immer noch gefährlich

Und welche Sprengkörper haben die Royal Airforce die US-Air Force eingesetzt? „Es gibt eine unglaubliche Vielzahl von Bombentypen, die über den Krieg hinweg abgeworfen wurden“, sagt der Luftbildauswerter. Er und seine Kollegen unterscheiden zwischen Sprengbomben ab 50 Kilo bis hin zu mehreren Tonnen und der sogenannten Brandmunition, die Gebäude in Brand setzen sollte. Diese in der Regel mit Phosphor gefüllte Munition hatte ein Gewicht zwischen zwei und 125 Kilo.

Und warum treiben die Kampfmittelräumer einen so großen Aufwand, um nicht explodierte Sprengmittel zu finden? „Bomben und Munition haben an ihrer Gefährlichkeit nichts verloren“, sagt Jensen. Fliegerbomben sind besonders gefährlich bei Bauarbeiten. „Die kinetische Energie, die von einem Bagger, Bohrer oder einer Ramme ausgeht, kann ausreichen, um eine Fliegerbombe zum Explodieren zu bringen.“

Kampfmittelräumdienst bittet um Informationen und Dokumente

Von dem Aufruf, Verdachtsflächen zu melden, erhoffen sich Auswerter und Entschärfer Hinweise aus der Bevölkerung sowie historische Dokumente, die aus Privatbesitz stammen könnten. Jensen: „Gerade ältere Menschen erinnern sich dann an selbst Erlebtes oder Geschichten aus ihrer Kindheit oder ihrer Eltern, die sie uns dann berichten.“ Sehr nützlich können alte Fotos von zerstörten Häusern, Zeitungsberichte von gefundenen Blindgängern, Pläne von ehemaligen Flakstellungen und Fundorte von Munition und Waffen sein.

Wer einen Verdacht hat, sollte den Kampfmittelräumdienst informieren. Noch laufen die Rückmeldungen jedoch nur verhalten ein. Sechs gingen bislang ein, davon waren drei für Bombenfachleute interessant. Wichtig sind Informationen über Blindgänger auch für Bauprojekte. Wer auf Verdachtsflächen bauen oder baggern will, muss das Gelände vom Kampfmittelräumdienst untersuchen lassen. Zunächst werden Luftbilder ausgewertet. Das können für eine Fläche schon mal mehrere 100 sein.

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Konkretisiert sich der Verdacht, rücken die vier Entschärfer des Kampfmittelräumdienstes an, der außerdem 14 Luftbildauswerter beschäftigt. Beim Kampfmittelräumdienst arbeiten 50 Männer und Frauen. In welchen Gemeinden in Schleswig-Holstein sich Verdachtsflächen befinden, hat das Land in einer Datei aufgelistet. „Die Suche nach einem Blindgänger ist die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen“, sagt Jensen. „Jede Ungenauigkeit kann dazu führen, dass man an der falschen Stelle sucht.“

Hinweise auf Blindgänger und andere Altlasten aus dem Zweiten Weltkrieg nimmt der Kampfmittelräumdienst unter Zeitzeuge@mbz.landsh.de oder unter 04340/40493 entgegen.