Wittenborn. Zwischen Ausgelassenheit und Trauer: 35 ukrainische Kinder nehmen eine Auszeit vom Krieg auf dem Jugendzeltplatz Wittenborn.
Sie müssen zurück. Zurück zu ihren Eltern und Geschwistern, zu ihrer Familie nach Nowowolynsk und anderen Städten in der Ukraine. Zurück in den Krieg.
Für knapp zwei Wochen sind 35 ukrainische Kinder und Jugendliche im Alter von zehn bis 16 Jahren mit fünf Betreuerinnen Gäste des Vereins für Jugend- und Kulturarbeit im Kreis Segeberg (VJKA), des Jugendverbands Neumünster und der Stadt Neumünster auf dem Jugendzeltplatz Wittenborn direkt am Mözener See. Ehrenamtliche Betreuerinnen und Betreuer bauten auf einer Waldlichtung ein kleines Dorf mit vier großen Schlafzelten für je acht Kinder auf.
Ukraine: Kinder und Jugendliche nehmen in Wittenborn Auszeit vom Krieg
Die ukrainischen Jugendlichen sollten bereits in der Woche nach Pfingsten eintreffen, doch es gab Verzögerungen durch die ukrainischen Behörden, die vor allem das Alter der Jungen prüften – auf Wehrdiensttauglichkeit.
In der Ukraine sind jetzt ein Vierteljahr lang Sommerferien. Viele Kinder und Jugendliche verbringen sie normalerweise in Ferien-Camps. Doch manche dieser Camps liegen in Schutt und Asche oder direkt im Einflussbereich der der russischen Armee.
Während viele ältere Jungen in der Ukraine schon im Kriegsdienst sind, packen die jüngeren und die Mädchen Pakete für die Soldaten, basteln und malen Bilder für sie, um ihnen eine Freude an der Front zu machen. „Das macht den Soldaten Hoffnung“, sagt die Betreuerin Olena. „Einige Väter dieser Kinder sind schon im Krieg gestorben, das macht allen Angst“, sagt Olga.
In Wittenborn sollen die Kinder wieder Kinder sein dürfen
Der Krieg reist also mit nach Wittenborn. In den Köpfen, Herzen und Seelen der Jugendlichen. Zwei Tage Fahrt mit dem Bus quer durch Polen liegen hinter ihnen – und auch zwei Tage vor ihnen, eine traurige Fahrt. „Doch erst einmal sollen sich die Jugendlichen hier erholen, durchatmen, ohne Angst in den Tag hineinleben und mit den anderen Kindern und Jugendlichen hier auf dem Zeltplatz Kontakte knüpfen und spielen“, sagt Jörg Kuhlmann, ehrenamtlicher Leiter des Kinder- und Jugendzeltlagers Wittenborn, der hauptamtlich von Marco Maibaum geleitet wird.
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Zwischen den Zelten der jungen Ukrainerinnen und Ukrainer baumeln Badehosen und Handtücher an der Leine, in der Mitte laden Stühle, Tische und Bänke zum Treffen ein. Vor dem Hauptgebäude malen und basteln sie unter Anleitung der deutschen Betreuerin Maike, während deren kleiner Sohn Matteo keck mitten auf dem Tisch zwischen Farbtuben und Pinseln sitzt und die ukrainischen Gäste anstrahlt.
Für die ukrainischen Jugendlichen ist Wittenborn ein Luxusort
Gesprächsfetzen auf Ukrainisch, Englisch und Deutsch fliegen hin und her, irgendjemand bietet Kuchen und Getränke an – es ist ein friedliches, ein heiteres Jugenddorf dort unten am Mözener See. Hierher kommt nur, wer sich auf eine leicht abenteuerliche Fahrt auf zwei Betonspuren entlang einem Waldhang wagt.
Für die 35 ukrainischen Jugendlichen ist es ein Luxusort. Sie kommen direkt aus einer Region, die minütlich unter russischen Raketenbeschuss geraten kann. Nur weil es einem alten Mann im Kreml so gefällt, und weil ihn niemand stoppt. Während die Jugendlichen sich in Wittenborn erholen, greift Russland ihre Heimat weiter an.
Kriegsangst: Sie ducken sich weg, wenn ein Flugzeug vorbeifliegt
Sie stehen per Smartphone täglich in Kontakt mit ihren Familien. Wenn sie basteln, malen, Sport machen und spielen, lachen sie und sind fröhlich. Doch in den Augen der zehn- bis 16-Jährigen liegen unkindlicher Ernst, Trauer – und auch eine Fassungslosigkeit über das, was in ihrer Heimat geschieht.
Wittenborn ist ein Friedensort für die Kinder. Und doch gibt es eine Störung in dieser Idylle, denn der Zeltplatz liegt in der Einflugschneise des Hamburger Flughafens. „Wenn die Flugzeuge uns hier überfliegen, ducken sich die ukrainischen Jugendlichen unwillkürlich weg“, beobachtete Jörg Kuhlmann. Die Angst ist auch in Wittenborn ständiger Begleiter der Kinder aus dem Kriegsland.
Wittenborn: Wenn sie glückliche deutsche Kinder sehen, werden sie ganz traurig
„Es ist sehr gefährlich bei uns“, sagt Anna (15). „Wir wissen nicht, was als Nächstes passiert, es ist jetzt schwierig, in der Ukraine zu leben“, sagt Dimitri (12). „Aber wir fühlen uns hier gut“, freuen sich Nastja (12) und Kira (15). „Es macht uns auch glücklich, dass uns so viele Menschen helfen, vor allem die Deutschen“, ergänzt Kira. „Doch bei uns sterben jeden Tag Menschen, während wir hier glücklich sind“, sagt sie traurig.
„Es ist gut für die Kinder, denn hier dürfen sie wieder Kind sein“, sagt Betreuerin Viktoria. „Aber sie wissen auch, dass sie zurück müssen, und wenn sie sehen, wie gut es den deutschen Kindern geht, werden sie ganz traurig“, sagt Betreuerin Irena. „Wir sind aber alle sehr dankbar, dass unsere Kinder sich hier vom Krieg erholen und Kraft schöpfen dürfen“, ergänzt Olena.
„Bei uns ist jetzt alles zerstört, unsere schönen Städte, die Häuser, die Felder, vor allem aber viele viele Menschen – unser einziger Wunsch ist Frieden“, sagt Tavas. Er ist erst 14 Jahre alt, doch der russische Angriffskrieg hat seine Kindheit abrupt beendet.
In einigen Tagen müssen die 35 Jugendlichen zurück nach Hause – in den Krieg.