Schwarzenbek. Nilüfer Türkmen verarbeitet in ihrem Buch „Als Mama mit der Lampe sprach“ ihre Kindheit und will damit mit einem Tabu brechen.
Wer stürzt und sich das Knie aufschlägt, bekommt ein Pflaster. Doch was ist, wenn nicht das Knie das Problem ist, die Wunde nicht sichtbar ist? Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (dpppn) erfüllt mehr als jeder vierte Erwachsene binnen eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung. Und dennoch sind sie eines der größten Tabus: Was es bedeutet an Angststörungen, Depressionen oder Schizophrenie zu leiden, ist den meisten nicht bewusst. Zudem verheimlichen viele Betroffene aus Angst vor Stigmatisierung ihre Krankheit. Nilüfer Türkmen will dieses Tabu brechen.
Die heute 25-Jährige hat bis zu ihrem neunten Lebensjahr mit ihrer an Schizophrenie erkrankten Mutter zusammengelebt. Im vergangenen Jahr erschien im Verlag Bastei Lübbe ihre Autobiografie „Als Mama mit der Lampe sprach“. Gemeinsam mit der Krankenpflegerin Pia Kubina hat die Bremerin eine Lesung mit Vortrag konzipiert, um eine Diskussion über diese Krankheit anzuregen. Auf Einladung des Landesverbands Schleswig-Holstein der Angehörigen und Freunde psychisch Kranker e.V. kommt Türkmen am Dienstag, 31. Mai, nach Schwarzenbek.
Nilüfer Türkmen: Lesung in Schwarzenbek am 31. Mai
Um 18.30 Uhr liest sie in den Räumen der Brücke SH, Grabauer Straße 27 a. Weitere Lesungen folgen am 1. Juni in Heide (Süderstraße 10) und am 2. Juni in Kiel (Restaurant des Sports, Winterbeker Weg 49). Der Eintritt ist frei.
Nilüfer Türkmen wurde 1997 in Bremen geboren. Nach ihrer Geburt zog sie gemeinsam mit ihren Eltern in die Türkei, in ein kleines Dorf in Aydin. Nachdem 2001 ihr Vater an einem Gehirntumor verstarb, wurde Nilüfer von dessen Familie zusammen mit ihrer schizophrenen Mutter vor die Tür gesetzt. Beide waren kurzzeitig obdachlos, bevor sie nach Bremen zurückkehrten. „Meine Mutter lebt schon lange mit der Erkrankung, vermutlich seit ihrem 20. Lebensjahr. Sie nahm Medikamente, das klappte mal mehr, mal weniger gut“, weiß die Tochter heute.
Mutter hört Stimmen, streitet mit einem Spion, der in der Lampe lebt
Als sich ihre Eltern kennenlernten, hatte der Vater bereits einen Gehirntumor. Möglicherweise sind ihm deshalb die Eigenheiten seiner Frau nicht aufgefallen. Zurück in Bremen ziehen beide in eine Wohnung, schlafen gemeinsam auf einer Matratze. „Meine Mutter war viel in ihrer eigenen Welt, erzählte Geschichten, die nur für sie Sinn ergaben“, erinnert sich Nilüfer Türkmen. Die Mutter hört Stimmen, streitet sich mit einem Spion, der in der Deckenlampe lebt oder fragt einen Magier um Rat, der ebenfalls unsichtbar ist. Schon als Kindergartenkind lernt die Tochter alles über Mörder und wie sie sich nach Ansicht ihrer Mutter schützen kann. Eine andere Wahnvorstellung ist, dass die Eltern ihrer Freunde Kannibalen seien und die zwei Jungen, mit denen Nilüfer Türkmen spielte, sie vergewaltigen wollten.
Als sie neun Jahre alt ist, entscheiden Sozialarbeiter, Kind und Mutter zu trennen. Das Mädchen kommt in ein Kinderheim. „Jetzt lernte ich eine neue Realität kennen: die echte. In der Kinder Kinder sein durften und Erwachsene sich wie Erwachsene verhielten. Das Aufeinandertreffen meiner alten, wahnhaften Realität und der neuen im Heim war wie ein Kulturschock für mich“, sagt Nilüfer Türkmen rückblickend.
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Nilüfer Türmen wird in Syke SPD-Ortsvorsitzende
Sie verbringt zehn Jahre im Heim, macht Abitur und beginnt ein Studium. Doch die Erfahrungen der Kindheit wirken nach: Fast wäre sie an der Fachhochschulreife gescheitert, denn ihre Mutter ist nicht nur in Gedanken bei ihr. Die Tochter versucht ihre Mutter, die mittlerweile in einer Einrichtung für betreutes Wohnen lebt, zu unterstützen, ihren Alltag zu regeln. Doch die junge Frau erkennt: Sie muss Abstand gewinnen, für sich selbst sorgen.
Nilüfer Türkmen zieht nach Syke, beginnt in Bremen zu studieren und entdeckt ihr Interesse für die Politik. Sie engagiert sich bei MideA (Menschlichkeit ist die einzige Alternative), wird SPD-Ortsvorsitzende in Syke. Ende 2018 wechselte sie zum Studium der Politik- und Rechtswissenschaft und zieht zurück nach Bremen. Der Kontakt zur Mutter ist geblieben, deren Krankheit auch.
Heute aber kann Türkmen dies einordnen: „Viele ihrer Fantasien drehen sich um meinen Schutz. Sie will mich vor allen vermeintlichen Gefahren bewahren, weil ich ihre Tochter bin und sie mich sehr liebt. Für diese Liebe, die sie sowohl im Wahn als auch in der Realität zum Ausdruck bringt, werde ich ihr immer dankbar sein.“