Brokdorf. Der Rückbau des Atomkraftwerks Brokdorf dauert bis zu 15 Jahre. Seit 2022 steht der Reaktor jetzt still, aber passiert ist bislang noch nichts.
Allein schon die Zahlen beeindrucken: 382 Milliarden Kilowattstunden Strom sind hier erzeugt worden, elf Milliarden pro Jahr. Die Betreiber dürften pro Tag eine Million Euro verdient haben. Eine Milliarde Euro kostet der Abriss. Der dauert bis zu 15 Jahre. Die Rede ist vom Atomkraftwerk Brokdorf an der Unterelbe, einem der am stärksten bekämpften, aber auch effektivsten und rentabelsten AKWs weltweit. Brokdorf ist mittlerweile seit knapp drei Jahren vom Netz. Aber noch immer ist kein Rohr, kein Ventil oder kein Kabel demontiert. Warum das so lange dauert, was die Atomaufsicht in Schleswig-Holstein damit zu tun hat und wie man überhaupt ein Atomkraftwerk zurückbaut – das Abendblatt hat sich in der Anlage umgeschaut und mit Experten bei PreussenElektra und der Atomaufsicht gesprochen.
Es ist eisig an diesem Winter-Sonnabend. Der Ostwind lässt die Temperaturen unter null Grad fallen. Die Kälte hält die Atomkraftgegner aber genauso wenig auf wie das gerichtlich verfügte Demonstrationsverbot. 100.000 Menschen machen sich an diesem 28. Februar 1981 auf, um in der Wilstermarsch gegen den Bau des umstrittenen Druckwasserreaktors in Brokdorf zu demonstrieren.
Atomkraftwerk Brokdorf: Wie man ein AKW abreißt – und warum das so lange dauert
Nie zuvor hat die Anti-AKW-Bewegung mehr Menschen mobilisiert. Brokdorf wird mit diesem Tag zum Symbol des Widerstands gegen die Nutzung der Kernenergie – durch den friedlichen Protest der vielen und die Randale von wenigen Tausend, die versuchen, die Baustelle zu stürmen. „Es war wie im Krieg“, erinnern sich friedliche Demonstranten später. Ein „Krieg“ mit Steinen, Wasserwerfern, Tränengas und vielen Verletzten auf beiden Seiten.
Nur gut fünf Jahre später geht Brokdorf schließlich ans Netz – am 8. Oktober 1986 und damit gerade einmal ein halbes Jahr nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl.
Jetzt, nach 35 Jahren, ist Schluss. Nur: Dieses „jetzt“ trifft es nicht ganz. Fünf Jahre hat der Bau des Druckwasserreaktors gedauert. Wie sehr sich die Bürokratie in Deutschland seither verselbstständigt habe, zeige das Genehmigungsverfahren für den Abriss, heißt es beim Betreiber PreussenElektra. Der Abriss, den alle Beteiligten nur „Rückbau“ nennen, wurde vor sieben Jahren beantragt – in der Hoffnung, ein Jahr nach der Abschaltung mit den Arbeiten beginnen zu können. Das wäre Ende 2022 gewesen, also vor zwei Jahren.
Rückbau eines Atomkraftwerks: In Bayern läuft er beim Reaktor Isar 2 schon
15 Monate nach Brokdorf gingen die letzten drei deutschen AKWs vom Netz: Emsland bei Lingen, Neckarwestheim 2 südlich von Heilbronn und Isar 2 rund 15 Kilometer nordöstlich von Landshut. Von der Atomaufsicht in München zum Reaktor Isar 2 ist es eine gute Stunde Fahrtzeit. Nicht viel länger dauert es von Kiel nach Brokdorf.
Das Tempo in Bayern und in Schleswig-Holstein ist trotzdem nicht vergleichbar. Ein Jahr nach dem Abschalten von Isar 2 startete dort der Abriss, in Brokdorf sind seit der letzten produzierten Kilowattstunde Strom drei Jahre vergangen. Beim genervten Brokdorf-Betreiber ist von einem „Süd-Nord-Gefälle beim Genehmigungstempo“ die Rede.
An den Besitzern – PreussenElektra hält 80 Prozent der Anteile, der Rest liegt beim HEW-Nachfolger Vattenfall – liegt die Zeitverzögerung wohl kaum. Sie zahlen jeden Monat bis zu fünf Millionen Euro an Gehältern, ob die Mitarbeiter viel zu tun haben oder nichts.
Schleswig-Holstein: Hoffnung auf Abrissstart für das AKW Brokdorf noch in diesem Jahr
Das Atomgesetz ist deutlich: Es schreibt den Betreibern vor, die Anlage „unverzüglich stillzulegen und abzubauen“. Im Oktober hat das schleswig-holsteinische Umweltministerium den Abriss schließlich grundsätzlich genehmigt, aber loslegen dürfen sie in Brokdorf trotzdem noch immer nicht. Zunächst muss der Energiekonzern noch fünf (von insgesamt 52) „Auflagen“ des Kieler Ministeriums erfüllen und einem „Hinweis“ nachgehen.
PreussenElektra, das Brokdorf wie auch die stillgelegten Kernkraftwerke Brunsbüttel und Krümmel gemeinsam mit Vattenfall betrieben hatte, hofft, Ende des Jahres mit den Arbeiten starten zu können. „Wir wollen endlich mit dem Rückbau beginnen“, sagt Unternehmenssprecherin Almut Zyweck.
„Die Nachweise, die wir erbringen müssen, übersteigen teilweise jene aus dem Leistungsbetrieb des Kraftwerks, obwohl die Gefahren abnehmen“, ergänzt ihr Kollege Hauke Rathjen. Die Kontrolldichte durch die schleswig-holsteinische Atomaufsicht sei sehr hoch. „Wir hätten uns mehr Vertrauen in die Eigenverantwortlichkeit unserer erfahrenen Fachleute gewünscht“, sagt Zyweck.
AKW Brokdorf: Regelmäßige Kontrollen und engmaschige Begleitung
Andres Wasielewski lässt den Vorwurf einer besonders peniblen Auslegung der Vorschriften nicht gelten. Schleswig-Holstein setze das einschlägige, strenge Regelwerk konsequent um. Mehr nicht. „Das ist unser gesetzlicher Auftrag als Atomaufsicht“, sagt der Abteilungsleiter Technischer Umweltschutz, Reaktorsicherheit und Strahlenschutz im Kieler Umweltministerium.
Dem Land sei an einem zügigen Rückbau der Anlagen gelegen, jedoch nicht zulasten der Sicherheit, betont Wasielewski. „Das Atomgesetz sieht regelmäßige Kontrollen und eine engmaschige Begleitung durch die Aufsichtsbehörde vor, und genau dies tun wir als atomrechtliche Aufsichtsbehörde.“ Schließlich müsse man verhindern, dass aus Versehen kontaminierte Stoffe nach außen gelangten.
Das AKW wird, vereinfacht ausgedrückt, von innen nach außen abgerissen. Das heißt, der Rückbau beginnt in der Herzkammer des Atomkraftwerks, dem Druckbehälter mit dem Reaktorkern, den radioaktiven Brennstäben und dem halbkugelförmigen Deckel. Die letzten verbliebenen Brennelemente, die hier noch abkühlen, werden in Castor-Behälter verpackt. Die sind rund 120 Tonnen schwer, knapp sechs Meter lang und bieten Platz für bis zu 19 strahlende Brennstäbe.
Abriss des Atomkraftwerks Brokdorf: Endlagersuche dauert noch Jahrzehnte
Irgendwann einmal, die Rede ist vom Jahr 2070, sollen die Castoren in ein Endlager für hoch radioaktiven Müll gebracht werden – wenn es dann gefunden und genehmigt sein sollte. Bis das so weit ist, werden die bis zu 100 Castorbehälter in einem stark gesicherten Zwischenlager für hoch radioaktiven Müll auf dem Kraftwerksgelände an der Unterelbe „geparkt“.
„Beim Einstieg in die Atomenergie hat man sich weder Gedanken über den späteren Rückbau der Kraftwerke noch über die sichere Entsorgung der Abfälle gemacht. Die Zeche dafür zahlen jetzt die Generationen, die von der produzierten Energie nicht mehr profitieren.“
„Beim Einstieg in die Atomenergie hat man sich weder Gedanken über den späteren Rückbau der Kraftwerke noch über die sichere Entsorgung der Abfälle gemacht. Die Zeche dafür zahlen jetzt die Generationen, die von der produzierten Energie nicht mehr profitieren“, sagt Schleswig-Holsteins Umweltminister Tobias Goldschmidt von den Grünen. „Es war wie der Start eines Flugzeugs, ohne einen Gedanken an die Landebahn.“
Bis Ende 2025 will der Konzern „Brennstofffreiheit“ erreicht haben – dann sollen die letzten Brennstäbe ins interne Zwischenlager gebracht worden sein. In Schritt 2 wird der schwach- und mittelradioaktive Abfall aussortiert und in „Konrad“-Behälter gepackt. Namensgeber ist „Schacht Konrad“, ein ehemaliges Eisenerzbergwerk in Niedersachsen. Das soll in ein paar Jahren so weit hergerichtet sein, dass schwach- und mittelradioaktiver Müll hier unter Tage deponiert werden kann. Weil das aber noch dauert, bleiben auch die Konrad-Container erst einmal in einer neuen Halle auf dem Gelände in Brokdorf stehen.
AKW Brokdorf: Was unbedenklich ist, wird recycelt
Jeden einzelnen Abbauschritt muss PreussenElektra bei der Aufsichtsbehörde in Kiel beantragen. Als Nächstes werden dann 20.000 Tonnen Müll aus dem inneren Sicherheitsbereich gereinigt, dekontaminiert, gemessen und schließlich entsorgt.
Der komplette Inhalt der Kugel von 56 Metern Durchmesser muss in Einzelteile zerlegt in einer vielleicht zehn Kubikmeter große Messanlage freigetestet werden. Tausende Armaturen, Hunderte Kilometer Rohrleitungen, Turbinen, Kabel, Behälter, Schaltschränke – alles muss durch die kleine Anlage und freigetestet werden. Was unbedenklich ist, wird recycelt, der Rest wird eingeschmolzen oder deponiert.
Nur: Diese Deponie muss erst einmal gefunden werden. In der Nähe von Brokdorf, im Kreis Steinburg, gibt es keine, und Gemeinden sonst wo in Schleswig-Holstein reißen sich nicht um AKW-Schrott, auch wenn er freigetestet und unbedenklich ist. So wird längst vor dem Verwaltungsgericht in Schleswig gegen den Plan geklagt, Abfälle aus dem stillgelegten AKW in Brunsbüttel bei Lübeck zu deponieren.
Geplanter Abriss des Atomkraftwerks in Brokdorf: Bis zu 15 Jahre Arbeit und 650.000 Tonnen Schutt
Ist der innere Sicherheitsbereich Geschichte, kommen die Gebäude und Anlagen außerhalb an der Reihe. Mit bis zu 15 Jahren Arbeit rechnen PreussenElektra und Vattenfall, bis auf dem Gelände kein Stein mehr steht.
650.000 Tonnen Schutt werden dann abgetragen sein. 97 Prozent davon sollen dem „Wirtschaftskreislauf wieder zugeführt“ werden. Heißt: Sie werden wie konventioneller Abfall, zum Beispiel für den Bau neuer Straßen, recycelt.
Aktuell arbeiten noch 250 Menschen im Kernkraftwerk, die Zahl wird nach und nach runtergefahren. Zu Zeiten, als der Reaktor unter Volllast lief, hatte das Unternehmen hier 500 eigene Beschäftigte unter Vertrag, hinzu kamen bis zu 500 Mitarbeiter von Partnerfirmen. Das AKW hat sie gut bezahlt – und die kleine Gemeinde Brokdorf mit ihren 1000 Einwohner reich gemacht. Eine Eissporthalle gibt es hier, einen „Mehrgenerationenplatz“, eine Sport- und Freizeithalle mit einem Haus der Vereine, ein Schwimmbad. Die Gewerbesteuern, mit denen Brokdorf sich den Luxus leisten konnte, sind Vergangenheit.
Stromkonzerne planen großen Batteriespeicher auf dem Gelände
Die Zukunft ist grün, sagt Unternehmenssprecherin Zyweck. Das Gelände ist günstig an der Elbe gelegen, die Infrastruktur ist vorhanden, es gibt ein Umspannwerk, der Standort ist ans Hochspannungsnetz angeschlossen, und von der AKW-gewohnten Bevölkerung ist kein größerer Widerstand gegen ein neues Projekt zu erwarten.
Und so planen PreussenElektra und E.ON einen Batteriespeicher auf dem Gelände. Die Idee: Ist das Angebot an Windstrom zu groß und die Abnahme zu klein, müssen Windräder heute noch vom Netz genommen werden. Bei einer Flaute wiederum muss Strom teuer zugekauft werden – zum Beispiel aus französischen Atomkraftwerken.
Das Dilemma wollen PE und E.ON mit dem Batteriespeicher angehen. In einem ersten Schritt sollen in Brokdorf von 2026 an 100 Megawatt Speicherkapazität für regenerativ erzeugte Energie entstehen, weitere 700 MW Speichervolumen sollen 2036 folgen. Das wäre der größte Batteriespeicher in der EU, sagt PreussenElektra. Damit könnten 1,5 Millionen Haushalte etwa zwei Stunden mit Strom versorgt werden. 750 Millionen Euro wollen die Stromkonzerne in das Batterieprojekt investieren.
Auch Atomkraftwerke Brunsbüttel und Krümmel werden abgerissen
PreussenElektra und Vattenfall hatten in Schleswig-Holstein über viele Jahre gleich drei Atomkraftwerke am Netz: neben Brokdorf den Siedewasserreaktor in Krümmel bei Geesthacht mit hohen Ausfallzeiten und das noch störanfälligere AKW in Brunsbüttel. „Brunsbüttel ist seit Ende 2018, Krümmel seit wenigen Wochen in der Phase der Stilllegung und des Abbaus“, sagt Andreas Wasielewski von der Atomaufsicht. Strom produzieren die beiden Pannen-Reaktoren aber schon viel länger keinen mehr.
„Alle drei Atomkraftwerke in Schleswig-Holstein befinden sich jetzt in der Rückbauphase. Damit ist der Atomausstieg ganz konkret – aber er wird noch Jahrzehnte dauern und sehr viel Geld kosten“, sagt Umweltminister Goldschmidt. Beim Rückbau gehe Sicherheit vor Schnelligkeit, unterstützt der Politiker den Chef der Atomaufsicht in seinem Ministerium.
Warum das AKW Brokdorf nicht länger am Netz blieb
Brokdorf war gerade erst sechs Wochen heruntergefahren, als Putins Armee die Ukraine überfiel. Deutschland drohte infolge der Sanktionen eine Energieknappheit. Die trat nicht ein, erschien 2022 aber doch real. Die Reaktormannschaft von Brokdorf war zu dem Zeitpunkt noch nahezu komplett am Start, und mit den vorhandenen Brennelementen hätten die Betreiber das AKW ohne Probleme ein ganzes Jahr weiter Strom produzieren lassen können.
Dennoch blieb Goldschmidt bei seinem kategorischen Nein zum erneuten Hochfahren des Druckwasserreaktors an der Unterelbe. Es werde in Deutschland keinen Wiedereinstieg in die Nutzung der Atomkraft geben, erteilte er entsprechenden Forderungen der CDU eine Absage. Der Atomausstieg sei technisch und wirtschaftlich eindeutig unumkehrbar, sagte der grüne Minister. Mit ihren nuklearen Träumereien wolle die CDU nur von ihrer energiewirtschaftlichen Konzeptionslosigkeit ablenken. „Sie sind eine Bankrotterklärung“, erneuerte Goldschmidt vergangene Woche gegenüber dem Abendblatt seine Kritik an der Union.
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Deutschland habe sich längst mit Strom aus Wind und Sonne auf den Weg in eine erneuerbare Zukunft gemacht, sagt Goldschmidt. Stromerzeugung in Kernkraftwerken? Das Kapitel ist auch für PreussenElektra „abgeschlossen“, sagt Unternehmenssprecherin Zyweck. „Wir haben andere Zukunftspläne an unseren Kraftwerksstandorten.“