Kiel/Berlin. 50.000 Tonnen liegen allein in der Lübecker Bucht. Umweltministerin informiert sich auf See über Pilotprojekt. Munition rostet durch.
300.000 Tonnen. So viel Munition, Torpedos, Granaten und Minen rotten allein am Meeresboden der deutschen Ostseeküste vor sich hin. Experten, von denen diese Zahl stammt, sprechen von „tickenden Zeitbomben“, im großen Stil versenkt nach Ende des Zweiten Weltkrieges durch die Alliierten, die so eine Wiederbewaffnung Deutschlands verhindern wollten. Jetzt ist die systematische Bergung und Entsorgung vor der schleswig-holsteinischen Ostseeküste gestartet. Gesteuert und finanziert mit 100 Millionen Euro wird der erste Schritt des Generationen-Projekts vom Bundesumweltministerium. Am Montag informierte sich Ministerin Steffi Lemke (Grüne) an Bord des Polizeibootes „Neustadt“ über die ersten Schritte.
So sind seit dem offiziellen Bergungsstart am 13. September in der Lübecker Bucht schon rund zehn Tonnen Munition aus der Ostsee vor Haffkrug und vor Pelzerhaken geborgen und sortiert worden. Die Zeit drängt: Während die starken Gezeiten der Nordsee die dort versenkte Munition mit Sand umspülte – und so etwas schützte –, liegen die Kriegswaffen in der Ostsee oft offen auf dem Meeresgrund.
Weltkriegsmunition in Ostsee – wie die Bergung funktioniert
Mit Gefahr für Ökosystem und Mensch: Fischer hatten in den vergangenen Jahren immer wieder Sprengkörper mit teilweise geöffneten Hüllen in ihren Netzen. Am Seeboden verrottende Munition wiederum setzt Schadstoffe frei, die ins Meer und über Fische und Muscheln in die Nahrungskette gelangen. Rund 1.600.000 Tonnen Munition lagern insgesamt vor der deutschen Nord- und Ostseeküste. „Die enthaltenen Sprengstoffe sind explosiv und können für Mensch und Umwelt zu einer echten Gefahr werden“, warnt der Kieler Umweltminister Tobias Goldschmidt.
Zwei Kilometer vor Haffkrug sowie drei Kilometer nördlich beziehungsweise westlich von Pelzerhaken befördern Spezialfirmen (SeaTerra sowie ein Zusammenschluss von Eggers Kampfmittelbergung und Hansataucher) „handhabungsfähige“ Munition aus einer Tiefe zwischen 18 und 22 Metern mit Greifern, Roboterarmen, Kränen und Drohnen nach oben oder packen sie unter Wasser um. Handhabungsfähig heißt: Erscheint das Explosionsrisiko zu groß, bleibt die Weltkriegsmunition im ersten Schritt der Bergung auf dem Meeresboden liegen. Denn die Fachleute wissen: Kommt es in dieser frühen Phase des Pilotprojekts zu einem Unglück, dürfte das Vorhaben sofort beendet sein.
70 Mitarbeiter der beiden Firmen sind vor Haffkrug und Pelzerhaken Tag und Nacht im Einsatz. Die Umgebung ihrer – auf Pfählen stehenden – Spezialschiffe ist mit gelben Tonnen zum Sperrgebiet erklärt worden, Überwachungsboote patrouillieren rund um die Bergungsorte. Dieter Guldin, ein studierter Archäologe, ist der Chef von SeaTerra. Er wirkt immer noch überrascht, wenn er von den ersten Untersuchungen und Bergungen vor Haffkrug spricht. Man sei auf „noch viel mehr Munition als erwartet“ gestoßen. Rund sechs Tonnen haben seine Leute bislang unter anderem mit computergestützten Greifern aus dem Wasser an Bord gehoben. Hier wird die Munition ausgepackt, untersucht, katalogisiert, mit Ortungsmöglichkeiten getrackt und schließlich in sicheren Behältern erneut auf den Meeresboden abgelassen.
Die Munition wird katalogisiert, umgepackt – und erst einmal wieder versenkt
Das Konsortium von Eggers/Hansataucher demonstriert auf einem Monitor seine andere Herangehensweise. Die Idee: Die Munition sollte die Ostsee in diesem ersten Schritt möglichst nicht verlassen. Auf einem Monitor sieht man einen Kranarm, der sich gesteuert von Bord des Schiffes vorsichtig den Munitionskisten nähert. Am Ende des Arms haben Eggers/Hansataucher einen Magneten montiert. Je nach Munitionstyp könnten es stattdessen auch Greifer oder Backen sein. Wie vor Haffkrug, wird auch hier die 80 Jahre alte Munition analysiert, erfasst und umverpackt - nur dank Kameras, Sonar, Sensoren und KI unter Wasser.
Parallel zu den Arbeiten läuft die Entwicklung einer automatisierten Entsorgungsplattform. Die europaweite Ausschreibung ist Ende September gestartet. Erkenntnisse aus dem Pilotversuch vor Haffkrug und Pelzerhaken fließen in den Bau der Industrieplattform ein. Denn noch wissen die Munitionsexperten recht wenig über die Hinterlassenschaften auf dem Meeresboden. Erst mit der jetzt angelaufenen Untersuchung wird sich herausstellen, in welchem Zustand die Munition ist. Oder was wo auf dem Meeresgrund liegt. Oder wie viel Munition pro Tag geborgen werden kann.
Bundesministerin: „Wir machen die Lübecker Bucht ein kleines Stückchen sicherer“
Die Plattform soll in etwa 15 Monaten in Betrieb gehen. Dann wird die jetzt in Containern geparkte Munition geborgen und auf dem Meer in Spezialöfen verbrannt. Die kann man sich vorstellen wie überdimensionierte Kachelöfen, sagt Wolfgang Sichermann. Er leitet das Bergungsprojekt. Flakmunition soll hierin kistenweise verbrannt werden. Große Bomben oder Granaten sollen erst automatisiert in Scheiben geschnitten und dann verfeuert werden. Der darin enthaltene Sprengstoff – bei einer 250 Kilo-Bombe waren es rund 125 Kilo Sprengstoff wie TNT – soll die Öfen an- und befeuern, sagt Sichermann.
Er denkt an eine modulartige Plattform, die Schritt für Schritt ausgebaut werden kann. Modul 1 könnte eine Größe von 40 mal 18 Meter haben. Die Größenordnung dürfte reichen, um rund 500 Tonnen Munition im Jahr zu verbrennen. Zurück bleiben Asche, Staub und Schrott, die an Land entsorgt werden müssen.
Die Ostsee vor der deutschen Küste munitionsfrei zu bekommen, wird sich über Jahrzehnte hinziehen. Allein in der Lübecker Bucht rechnen Experten mit 50.000 Tonnen Weltkriegsschrott, die geborgen und entsorgt werden müssen.
„Ich bin froh, dass wir nun wirklich damit begonnen haben, alte, verrostende Munition vom Meeresboden der Ostsee zu bergen. Mit jeder Patronenkiste und jeder Bombe weniger machen wir die Lübecker Bucht ein kleines Stückchen sicherer – für die Fischerei und den Tourismus als auch für die Meeresumwelt“, sagte Bundesumweltministerin Steffi Lemke:
Kompetenzzentrum „Munimar“ soll Bergung begleiten
Parallel zur Bergung hat das Kieler Umweltministerium gemeinsam mit dem Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung und der Industrie- und Handelskammer Schleswig-Holstein den Aufbau eines „Kompetenzzentrums für den Umgang mit Munition in der marinen Umwelt“ („Munimar“) angeschoben. „Hier bündeln wir unsere Erkenntnisse rund ums Thema Munition im Meer und optimieren den Austausch zwischen Wissenschaft, Verwaltung und Wirtschaft“, sagt Goldschmidt.
Die Ostsee ist krank, der grüne Landesumweltminister nennt sie „ein geschundenes Gewässer“. „Sie leidet massiv unter Nährstoffeinträgen, Verschmutzung und Übernutzung. Hinzu kommt die Bedrohung durch sich zersetzende Munition“, so der Politiker der Grünen. Deren Bergung sei ein wichtiger Schritt, die Ostsee wieder „in einen guten Zustand zu bringen“, sagt Goldschmidt.
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Über das „Kompetenzzentrum Munimar“ will das schwarz-grüne Kabinett die Arbeit der beteiligten Bundes- und Landesbehörden koordinieren, einheitliche Standards für Antrags- und Genehmigungsverfahren entwickeln, die Munitionsräumung koordinieren und deren Finanzierung langfristig sicherstellen. Die Fachleute des Kieler Geomars wiederum sollen ihre Ergebnisse jahrelanger Forschung zum Umgang mit austretenden Schadstoffen „in die Entwicklung konkreter Projekte und Technologien“ einbringen, so Geomar-Direktorin Professorin Katja Matthes. Und die IHK soll gemeinsam mit den beteiligten Unternehmen „eine lokale Wertschöpfung erreichen, die sich beispielsweise aus der Entwicklung neuer Technologien für die Bergung der im Meer befindlichen Munition ergeben könnte“, verspricht sich Goldschmidt von dem gemeinsamen Projekt.
Die Gefahr auf dem Meeresgrund zu beseitigen, kostet viele Milliarden Euro und dauert Jahrzehnte. „Mit der Aufgabe werden sich noch unsere Enkel beschäftigen“, sagt Tobias Goldschmidt.