Grömitz. Die Touristenhochburg an der Ostsee geht einen neuen Weg im Kampf um bezahlbaren Wohnraum – und das auf ganz besondere Weise.

Wenn Bürgermeister Sebastian Rieke durch Grömitz geht, wird er auf Schritt und Tritt mit der wohl größten Herausforderung der Gemeinde konfrontiert. Vor vielen Betrieben hängen ‚Mitarbeiterin/Mitarbeiter gesucht‘-Schilder. Grömitz, mit jährlich 1,9 Millionen Übernachtungen und mehr als 336.000 Gästen eines der Top-Reiseziele der Ostseeküste, ächzt unter dem grassierenden Fachkräftemangel. Und nicht nur Hotels und Restaurants suchen dringend Beschäftigte, auch Handwerksbetriebe, Pflegedienste, Arztpraxen und Versicherungsagenturen fahnden nach Arbeitskräften.

Dabei hat der altbekannte Slogan „Arbeiten, wo andere Urlaub machen“ an der Ostsee keineswegs ausgedient. „Es gibt geeignete Bewerberinnen und Bewerber. Aber angesichts des schwierigen Wohnungsmarkts kommt das Arbeitsverhältnis dann oft doch nicht zustande. Es fehlt einfach bezahlbarer Wohnraum“, sagt Rieke. Wie begehrt dieser ist, zeigte sich im Sommer 2023, als Grömitz ein Gebäude mit 23 öffentlich geförderten Wohnungen fertigstellte (Kaltmiete 8,50 Euro pro Quadratmeter). „Wir hatten mehr als 300 Bewerbungen. Ich habe unter notarieller Aufsicht die Wohnungen verlost“, sagt Rieke.

Arbeiten an der Ostsee: Grömitz baut Wohnungen für Mitarbeiter

Nun will die Gemeinde mit ihren knapp 7300 Einwohnern einen neuen Weg gehen, um für Wohnraum zu sorgen: Grömitz plant den Bau von Wohnungen gezielt für Beschäftigte.

„Wohnen beim Chef“ feiert in Deutschland derzeit ein unverhofftes Comeback. In den 1970er-Jahren gab es noch rund 450.000 Werkswohnungen. Doch dann verkauften Staatsbetriebe wie die Deutsche Bahn und Siemens große Teile ihre Bestände – die Vermietung erschien unrentabel. Inzwischen korrigieren Arbeitgeber reihenweise diesen „fatalen Fehler“ (Mieterbund-Präsident Lukas Siebenkotten). Nach einer aktuellen Studie vermieten derzeit gut fünf Prozent der Unternehmen in Deutschland Unterkünfte an ihre Beschäftigten. So baut etwa die Haspa ein Azubi-Wohnheim am Alsenplatz in Altona.

Betriebe können Belegungsrechte erwerben

Das Problem: Leisten können sich dies nur große Arbeitgeber. Kleinen und mittlere Betriebe können ein solches Investment kaum stemmen. Deshalb will Grömitz das Modell des Mitarbeiterwohnens modifizieren: Gewerbebetriebe, Dehoga, Gewerbeverein und Gemeinde schließen sich zu einer Genossenschaft zusammen. Über einen Baukostenzuschuss erwerben die Betriebe Belegungsrechte für die Wohnungen, die sie dann an die Beschäftigten vermieten.

Sebastian Rieke und Manfred Wohnrade in Grömitz

„Wir brauchen hier ganz dringend junge Leute, die hier arbeiten, die Familien gründen, in die Vereine gehen.“

Sebastian Rieke,

Im April stellten Rieke und Tourismus-Chef Manfred Wohnrade ihre Idee vor und schrieben alle Gewerbetreibenden in Grömitz an. Der Rücklauf zeigt, dass die Gemeinde einen Nerv getroffen hat. 156 Betriebe bekundeten ihr Interesse. Inzwischen gab es eine erste Informationsveranstaltung.

Ungeschriebenes Gesetz: Mitarbeiter werden nur von außen geholt

Auch Olaf Dose-Miekley, stellvertretender Bürgermeister und Hoteldirektor des Grömitzer Vier-Sterne-Hotels Strandidyll, unterstützt das Projekt: „In Tourismusregionen ist die Wohnungsfrage für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein existentielles Thema.“ Das Hotel hat bereits zehn Wohnungen in Grömitz für Beschäftigte angemietet und baut derzeit ein Haus mit sieben Wohnungen. „Aber das reicht nicht für den wachsenden Bedarf“, sagt Dose-Miekley.

Zumal in Grömitz das ungeschriebene Gesetz gilt, neue Mitarbeiter von außen zu holen – und nicht von der Konkurrenz. „Fischen im eigenen Teich ist bei uns verpönt. Wir Grömitzer halten zusammen“, sagt Dose-Miekley. Was im Umkehrschluss allerdings den Druck erhöht, Wohnraum zu schaffen.

Innenministerium lobt das Projekt, das Land Schleswig-Holstein will es fördern

Eine große Hürde hat Grömitz bereits genommen. Das Land Schleswig-Holstein will das Projekt fördern, wenn entsprechende Mittel bereitstehen und die Förderbedingungen erfüllt werden. „Ein solches genossenschaftliches Projekt für Mitarbeitende gibt es bisher im Rahmen der schleswig-holsteinischen Wohnraumförderung nicht. Aus Sicht des Innenministeriums kann das Mitarbeiterwohnen ein wichtiges Element zur Schaffung von bezahlbarem Wohnraum darstellen“, sagt Tim Radtke, Sprecher des Ministeriums.

Der Surf Rescue Club in Grömitz ist ein Hotel mit DLRG-Wachstation.
Der Surf Rescue Club in Grömitz ist ein Hotel mit DLRG-Wachstation. © Michael Rauhe | Michael Rauhe

Die Gründung einer Genossenschaft könne aus Sicht des Landes insbesondere geeignet sein, um die Leistungsfähigkeit mehrerer Unternehmen zu bündeln und in einem Projekt zusammenzuführen. Deshalb war bereits eine Machbarkeitsstudie gefördert worden. Weiter heißt es auf Anfrage des Abendblatts: „Das Land begleitet das Projekt auch deswegen, um die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit der Verknüpfung des Mitarbeiterwohnens mit der Wohnraumförderung zu prüfen und mit interessierten Unternehmen zu erörtern. Das Projekt in Grömitz ist daher auf mehreren Ebenen ein Vorreiterprojekt. Die Erfahrungen in diesem Projekt können Beispiel für weitere gleichgelagerte Projekte sein.“

Arbeiten an Nord- und Ostsee: Fachkräfte fehlen in vielen Orten

In der Tat hat Grömitz das Fachkräfteproblem keineswegs exklusiv. An den Küsten von Nord- und Ostsee machen reihenweise Restaurants selbst in der Hochsaison für ein oder gar zwei Tage zu. „Den Betrieben fehlen die Leute“, sagt Wohnrade. Als er jüngst an einem warmen Sommertag seinen Kolleginnen und Kollegen Eis ausgeben wollte, stand er bei der Eisdiele seines Vertrauens vor der verschlossenen Tür: „Auch diesem Inhaber fehlen die Mitarbeiter.“

Eines ist Wohnrade und Rieke sehr wichtig: Auf keinen Fall werde aus dem geplanten Projekt eine Art Wohnheim, wo sich drei Saisonarbeitskräfte eine kleine Wohnung teilen. Die früher branchenüblichen Neunmonatsverträge gebe es eh kaum mehr, sagt Wohnrade: „Dafür ist der Wettbewerb um die besten Kräfte viel zu hart.“

Nächstes Problem ist die Überalterung der Bevölkerung in Grömitz

Nein, mit den Mitarbeiter-Wohnungen will Grömitz ein lebenswertes Quartier schaffen, möglichst mit einer Kita und einem Nahversorger. Denn den Bürgermeister beschäftigt neben dem Fachkräftemangel ein weiteres Problem: Die Gemeinde ist überaltert. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wird Grömitz 2030 die älteste Kommune in Ostholstein mit mehr als 5000 Einwohnern sein.

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In gewisser Weise ist dies der Fluch der Attraktivität. „Viele Besitzer einer Ferienwohnung, die sie sich in den 1970er-Jahren gekauft haben, gehen nun in Rente und ziehen ganz hierher“, sagt Rieke. Zwar freut sich der Bürgermeister über jeden neuen Bürger: „Aber wir brauchen hier ganz dringend junge Leute, die hier arbeiten, die Familien gründen, in die Vereine gehen.“ Schließlich brauche auch die Feuerwehr neue Mitglieder. Und fügt scherzhaft hinzu: „Es darf nicht passieren, dass hier irgendwann ein 80-Jähriger eine 90-Jährige bei Edeka an der Kasse bedienen muss.“

Arbeiten an der Ostsee: Genossenschaft gegen den Wohnungsmangel

Wie viele Wohnungen zu welchem Zeitpunkt in welcher Größe gebaut werden, ist noch offen. Pioniere haben es nie leicht. In den kommenden Monaten wird es bei der Gründung der angestrebten Genossenschaft um die Details gehen. Das Finanzierungskonzept ruht auf drei Säulen: den Baukostenzuschuss, den die Betriebe zahlen müssen (angedacht sind 750 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche), das Darlehen einer Bank und die Förderung des Landes. Diese wird den Konditionen des geförderten Wohnungsbaus entsprechen, was allerdings auch bedeutet, dass die Betriebe, die Belegungsrechte erwerben, je nach Förderweg Einkommensgrenzen ihrer Mieter berücksichtigen müssen.

In der Grundstücksfrage hat Rieke zwar bereits gemeindeeigene Flächen im Auge, aber zu welchen Konditionen diese in das Projekt eingebracht werden können, wird nun Bestandteil der Gespräche. Am Ende hängt alles an der Frage, wie viele Interessenten bei der Stange bleiben, wenn die konkreten Kosten bekannt sind. Womöglich geht Grömitz den neuen Weg auch in mehreren Schritten, startet also zunächst mit einem eher kleineren Bauvorhaben.