Kiel/Berlin. 300.000 Tonnen Granaten, Torpedos, Minen, Munition: Auf diese Größenordnung schätzen Experten die Altlasten des Weltkriegs vor der Küste.

Viele Jahre haben Meeresschützer, Wissenschaftler und Anwohner der deutschen Ostseeküste vor den Gefahren auf dem Meeresboden gewarnt – und auf diese Nachricht warten müssen: In wenigen Wochen startet die Bergung der Torpedos, Granaten, Minen und Munition, die vor allem die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg im Meer versenkt hatten. Experten befürchten, dass allein vor der deutschen Ostseeküste 300.000 Tonnen auf dem Meeresboden vor sich hin rosten. Die Rede ist von „tickenden Zeitbomben“, die von Mitte August an systematisch gehoben und entsorgt werden. Angesichts der Dimension ist von einem Generationen-Projekt die Rede.

Während die starken Gezeiten der Nordsee die dort versenkte Munition mit Sand umspülte – und so etwas schützte –, liegen die Kriegswaffen in der Ostsee offen auf dem Meeresgrund. Mit Gefahr für Ökosystem und Mensch: Fischer hatten in den vergangenen Jahren immer wieder Sprengkörper mit teilweise geöffneten Hüllen in ihren Netzen. Am Seeboden verrottende Munition wiederum setzt Schadstoffe frei, die ins Meer und über Fische und Muscheln in die Nahrungskette gelangen. Seit Jahren schon warnt das Umweltbundesamt vor giftigem und krebserregendem „TNT und seinen Metaboliten“.

Munition in der Ostsee: Entsorgung startet in der Lübecker Bucht

In rund drei Wochen soll in der Lübecker Bucht der vom Bund mit 100 Millionen Euro finanzierte erste Abschnitt der systematischen Bergung starten. Zwei Kilometer vor Haffkrug sowie drei Kilometer nördlich beziehungsweise westlich von Pelzerhaken werden Spezialfirmen (SeaTerra sowie ein Zusammenschluss von Eggers Kampfmittelbergung und Hansataucher) die Munition aus einer Tiefe zwischen 18 und 22 Metern nach oben befördern und entsorgen.

Um die besten drei Standorte für dieses Pilotprojekt in der schleswig-holsteinischen Ostsee zu finden, hatten Fachleute des Bundesumweltministeriums einen Kriterienkatalog erarbeitet, mit dem sie Wassertiefe, Erkundungsgrad, Abstand zum Ufer, Gefährdungslage und nahegelegene Schifffahrtsrouten abglichen. Auf dieser Grundlage fiel die Entscheidung für die drei Standorte unmittelbar vor den beliebten schleswig-holsteinischen Urlaubsorten. Ein vierter Standort liegt vor Mecklenburg-Vorpommerns Küste.

Munition in der Ostsee: Auf Taucher soll möglichst verzichtet werden

30 Arbeitstage hat das Bundesumweltministerium den Bergungsfirmen für jeden Standort bewilligt. Die Vorgabe: Die Unternehmen sollen von Schiffen aus die Munition mit Greifern, Roboterarmen, Kränen und Drohnen bergen – und möglichst auf den Einsatz von Tauchern verzichten, um die Gefahren zu minimieren. Auch sollen die Firmen nur „handhabungsfähige“ Munition heben. Heißt: Erscheint das Risiko zu groß, wird der Weltkriegsschrott erst einmal liegen gelassen. Bis November müssen die Unternehmen ihre Arbeit abgeschlossen haben.

Die geborgene Munition wird nicht an Land „zwischengeparkt“. Das heißt, sie verbleibt im Wasser, bis sie im niedersächsischen Munster entsorgt wird. Die dortige „Gesellschaft zur Entsorgung chemischer Kampfstoffe und Rüstungsaltlasten“ (GEKA) hat sich verpflichtet, 50 Tonnen zu übernehmen. Parallel zur Pilotphase vor Haffkrug und Pelzerhaken startet das Bundesumweltministerium im Sommer die Ausschreibung für Stufe 2 des 100-Millionen-Euro-Sofortprogramms: die Entwicklung und den Bau einer Entsorgungsplattform. Gesucht wird ein industrieller Partner.

Ziel ist eine vollautomatisierte und fernüberwachte Entsorgungsplattform

„Mit dem Pilotversuch wollen wir Erkenntnisse gewinnen, die in den Bau der Plattform einfließen: In welchem Zustand ist die Munition? Welche Technologie braucht es auf der Plattform? Wie viel Munition kann in Masse pro Tag tatsächlich geborgen werden? Wie gut funktionieren die Prozesse bei einer entsprechenden Höherskalierung in der Bergung?“, sagt Alexander Bach, der Kampfmittel-Experte im Kieler Umweltministerium.

Bundesumweltministerin informiert sich über Bergung von Munition
Bundesumweltministerin Steffi Lemke von den Grünen informierte sich vergangenen September an Bord eines Marineschiffes über die anstehende Bergung der Munitionsaltlasten in der Ostsee. © picture alliance/dpa | Axel Heimken

Ziel ist, eine vollautomatisierte und fernüberwachte Entsorgungsplattform zu bauen. „Aber in der Anfangsphase werden noch Menschen an Bord sein müssen, die die Maschinen bedienen und überwachen“, sagt Bach. Das Bundesumweltministerium will den Bau der Plattform bis Ende 2026 abgeschlossen wissen. Das liegt klar hinter dem ursprünglich ambitionierteren Zeitplan. Über die Plattform sollen von 2027 an 750 Tonnen Munition im Jahr geborgen, entschärft und entsorgt werden.

Minister: Ostsee ist ein geschundenes Gewässer

Angesichts von 300.000 Tonnen Altlasten gilt der Bau einer Plattform als guter Start in die systematische Entsorgung – mehr aber auch nicht. „Wir müssen weitere Entsorgungskapazitäten gegebenenfalls auch an Land aufbauen und weitere Technologien zur Entsorgung entwickeln“, sagt Alexander Bach.

Die Ostsee ist krank, Landesumweltminister Tobias Goldschmidt nennt sie „ein geschundenes Gewässer“. Ursachen dafür gibt es viele, die Weltkriegshinterlassenschaften sind nur eine davon. „Der ,Vorteil‘ ist: Wir kennen die Quelle. Wir wissen, sie ist von Menschen gemacht. Und wir wissen auch, dass, wenn wir diese Quelle aus dem Wasser bergen, das Problem gelöst wird. Die Munitionsbergung ist damit wichtiger Bestandteil des Aktionsplans Ostseeschutz“, sagt Munitionsexperte Bach. 

Stört die Munitionsbergung die Totenruhe?

Diese Gefahr zu beseitigen, kostet viele Milliarden Euro und dauert Jahrzehnte. Für den grünen Kieler Umweltminister ist die jetzt startende Pilotbergung auch nur ein erster Schritt. Tobias Goldschmidt: „Mit der Aufgabe werden sich noch unsere Enkel beschäftigen.“ Neben dem Bund und den Ostseeanrainerländern müsse sich jedes Bundesland an den Kosten beteiligen, schließlich sei Munition aus ganz Deutschland in der Ostsee versenkt worden, forderte Goldschmidt kürzlich im Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung (Geomar). Dessen Experten begleiten die Bergung und Entsorgung wissenschaftlich. 

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Die Ostsee ist nicht nur ein „geschundenes Meer“, wie Goldschmidt sagt, sie ist auch ein Friedhof. Neben Hunderttausenden Tonnen dort verklappter Munition liegen Wracks versenkter Schiffe und Flugzeuge auf dem Meeresboden – und mit ihnen zahllose Leichen: Zivilisten auf der Flucht, Soldaten, Angehörige der Handelsmarine. Ihre Gräber auf dem Meeresboden sind offiziell geschützt – von einer Totenruhe könne jedoch keine Rede sein, kritisiert Christian Lübcke. Er ist der Landesgeschäftsführer des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Hamburg.

Lübcke berichtete kürzlich in Hamburg bei einer Fachtagung der Konrad-Adenauer-Stiftung von Schatzsuchern und zunehmendem Tauchtourismus, der die Seekriegsgräber bedrohe. Und von seiner Sorge, dass auch die – notwendige – Munitionsbergung die Totenruhe stören könne. Die große Masse der Munition sei bewusst versenkt worden. Aber sollte die Bergung in einem Wrack oder in dessen unmittelbarer Nähe anstehen, drängt Lübcke darauf, hinzugezogen zu werden. Er definiert den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge als Anwalt der Hinterbliebenen. „Wir wollen beteiligt werden, weil durchaus noch Angehörige leben“, fordert Lübcke vom Bundesumweltministerium.