Kiel/Hamburg. In Hamburgs Nachbarland steigt die Inzidenz – und der Druck, die Lockerungen wieder zurückzunehmen. Stegner lobt Tschentscher.
Volle Parkplätze, lange Schlangen am Eingang: Im Neumünsteraner Outlet-Center war am Sonnabend viel los. Das erste Wochenende nach der Öffnung der Läden in Schleswig-Holstein nutzten auch viele Hamburger, um T-Shirts oder Hosen zu kaufen. Nun sieht es so aus, als ob diesem Wochenende maximal ein weiteres folgen sollte. Denn in Schleswig-Holstein steigt die Corona-Inzidenz wieder.
Am Montag lag sie laut Robert-Koch-Institut schon das zweite Mal in Folge über der 50er-Marke. Geschieht dies ein drittes Mal, müssen die Läden wieder schließen und dürfen nur noch Terminshopping anbieten („Click and meet“). „Das wäre eine Katastrophe für die Geschäfte“, sagt Mareike Petersen, Geschäftsführerin des Handelsverbands Nord. Auch Hotellerie und Gastronomie müssen angesichts der Zahlen wohl vorerst auf Öffnungen verzichten.
Jamaika-interner Ärger über Günthers Kurs
Der Anstieg des Inzidenzwerts trifft das Bundesland zur Unzeit. Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) hatte sich bei der Bund-Länder-Konferenz am 3. März energisch für einen Öffnungsplan eingesetzt, der erste Schritte nicht erst bei einer Inzidenz von unter 35 vorsieht, sondern schon bei unter 50. Und die Kieler „Jamaika“-Koalition hatte diese Öffnungsschritte dann auch vollständig umgesetzt. Ohnehin ist die Landesregierung seit längerem darauf erpicht, wieder mehr Handel und Wandel zuzulassen. Zum 1. März hatte Ministerpräsident Günther beispielsweise Gartencenter, Zoos und Tierparks öffnen lassen – ein Alleingang, der beim Nachbarn Hamburg nicht besonders gut angekommen war.
Da ist es nun besonders unerfreulich, dass die Inzidenzwerte im Norden wieder hochgehen. In der Koalition aus CDU, Grünen und FDP ärgern sich manche hinter vorgehaltener Hand über Günthers Öffnungskurs. Offiziell ist zu hören, dass die Entwicklung beobachtet werde. Regierungssprecher Peter Höver sagte, dass am morgigen Mittwoch über das weitere Vorgehen entschieden werde. Immer mittwochs werde man in Zukunft darüber beraten, wie es am darauffolgenden Montag weitergehen solle.
Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:
- Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
- Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
- Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
- Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
- Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).
Die Tendenz ist jedenfalls klar. Seit sieben Tagen steigt die Inzidenz in Schleswig-Holstein – und angesichts der zwischenzeitlichen Öffnungen ist es sehr unwahrscheinlich, dass in den kommenden Tagen ein plötzlicher Sinkflug einsetzt. Ministerpräsident Günther hatte seine Lockerungen zudem stets damit verteidigt, dass sie wieder zurückgenommen würden, falls die Inzidenz steige. Der Stufenplan funktioniere eben in beide Richtungen – bei fallender, aber auch bei steigender Inzidenz, hatte er erst vergangene Woche im Abendblatt-Interview beteuert.
Stegner lobt Hamburgs vorsichtigen Kurs
Ralf Stegner (SPD), Oppositionsführer im Kieler Landtag, fordert deshalb, die Öffnungen wieder zurückzunehmen. „Ich gehe davon aus, dass sich Schleswig-Holstein an das hält, was am 3. März in der Konferenz beschlossen worden ist“, sagt er. Stegner bedauert, dass die Corona-Zahlen wieder steigen. „Das ist nichts, über das man sich freuen kann“, sagt der SPD-Fraktionschef.
Er erinnert daran, dass der Inzidenzwert in Schleswig-Holstein nie sehr weit unter der 50er-Marke gesunken sei. „Ob man in dieser Situation bundesweit den Vorreiter bei Öffnungen spielen muss, wage ich zu bezweifeln“, so Stegner. „Angesichts der nun auch bundesweit wieder ansteigenden Corona-Zahlen muss man sagen: Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher bekommt im Nachhinein Recht mit seinem vorsichtigen Kurs.“
Auch Eka von Kalben, Fraktionsvorsitzende der Regierungspartei Grüne/Bündnis 90, sagt: „Den Beschluss vom 3. März muss man ernst nehmen.“ Die darin bei Überschreitung des 50er-Werts vorgesehene Rückkehr des Einzelhandels zum „Click and meet“ sei für die Ladeninhaber zumutbar.
Einzelhandel skeptisch wegen "Click and Meet"
Im Einzelhandel sieht man das naturgemäß anders. „Click and meet ist für die meisten Branchen nicht wirtschaftlich“, sagt Mareike Petersen vom Handelsverband Nord. Ausnahmen gebe es dort, wo hochpreisige Artikel verkauft würden, also etwa bei Maßschneidereien oder im Autohandel. Die meisten anderen Geschäfte würden sich überlegen müssen, ab sie das Termin-Shopping überhaupt anbieten sollen. „Und da kommt es dann schon sehr auf die genaue Ausgestaltung an“, sagt sie.
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Wie viele Kunden dürfen in den Laden? Können sie spontan vorbeikommen oder ist eine Anmeldung via Telefon oder Internet erforderlich? Dennoch gelte: „,Click and meet´ ist auf jeden Fall eine Verschlechterung.“ Petersen bringt deshalb auch die mecklenburgische Variante ins Spiel. Dort haben Läden in denjenigen Städten und Kreisen geöffnet, die unter der 50er-Inzidenz liegen. „Solche Kreise gibt es auch in Schleswig-Holstein“, sagt sie.
Verwirrende Situation um die Schulöffnungen
Bei den Schulen ist die Situation noch ein bisschen verwirrender. Gestern saßen tausende Schüler der Jahrgänge sieben bis 13 in ganz Schleswig-Holstein erstmals seit Monaten wieder in ihren Klassenzimmern – trotz steigender Inzidenz, trotz Grenzwertüberschreitung. Zudem verstößt die Schulöffnung gegen den Beschluss vom 3. März. Dort heißt es: „Für einen sicheren Schulbetrieb und eine sichere Kinderbetreuung stellen die Länder im Rahmen von Testkonzepten sicher, dass das Personal in Schulen und Kinderbetreuung sowie alle Schülerinnen und Schüler pro Präsenzwoche das Angebot von mindestens einem kostenlosen Schnelltest erhalten.“ Weder in Schleswig-Holstein noch in Hamburg gibt es derzeit diese Schülertestungen.
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Die Lehrergewerkschaft GEW fordert deshalb, Öffnungsschritte wieder zurückzunehmen. „Wir halten es für unangebracht, den Präsenzunterricht an den Schulen in Kreisen mit hohen und steigenden Inzidenzwerten auszuweiten“, sagt GEW-Geschäftsführer Bernd Schauer. „Bei einem regionalen Inzidenzwert von über 50 sollten auch die Grundschulen wieder in den Wechselunterricht gehen.“ Kein Mensch wisse zudem, wann die Schüler regelmäßig getestet würden. „Die Organisation scheint ziemlich verbesserungswürdig zu sein, um es vorsichtig zu formulieren.“