Im nordkroatischen Istrien treffen sich Romantiker, Radfahrer, Künstler und Gourmets in historischen Steindörfern wie Motovun und Grožnjan.
Wer zum zweiten Mal ein Land bereist, für den beginnt der Urlaub mit Bildern aus der Erinnerung. Jugoslawien vor 30 Jahren: Neben unserer Ferienwohnung in Istrien brummten Generatoren und Zikaden. Ich durfte im Stockbett oben schlafen und machte meinen ersten Köpper in die Adria. Mein Bruder trat in einen Seeigel und bekam daraufhin glitzernde Gummisandalen. Ich war sehr neidisch, traute mich aber nicht, in einen Seeigel zu treten. Meine Schwester lernte laufen, weil der Kies beim Krabbeln am Strand zu sehr über die Knie scheuerte. Mein Papa trank Hauswein und verzog dabei sein Gesicht. Die Dauerwelle meiner Mama kräuselte sich beim Schwimmen ganz fürchterlich. "Mama ist die Hübscheste", sagte dann Papa und meinte es ernst. Es roch nach Sozialismus und Cevapcici. Die Sonne schien entspannt in den Tag hinein. Wir waren glücklich.
In der Zwischenzeit hat das Land viel Veränderung erlebt, es trägt nicht mal mehr denselben Namen. Die Leute in Istrien stört das nicht weiter - die Älteren unter ihnen gehörten bereits zu Österreich-Ungarn, Italien, dem Deutschen Reich, Jugoslawien und jetzt eben zu Kroatien. Auch das Image als Billigreiseland mit eher mittelmäßigem Essen hat es hinter sich gelassen. Balkan Grill adieu. Tourismusverband und Hoteliers haben viel Marketingaufwand betrieben, um Istrien als Gourmetdestination zu positionieren, was gerade jetzt im Herbst kein Problem ist. Da beginnt die Trüffelsaison, und die Oliven werden geerntet. In Küstenstädten wie Rovinj, Porec oder Novigrad, die mit ihrer venezianischen Architektur jedem Italiener "Willkommen zu Hause!" entgegenrufen, gibt es eine große Auswahl an ausgezeichneten Restaurants. Diesen Abschnitt der Adria hat man zum Fressen gern.
Besonders interessant wird Istrien aber im Hinterland. Dort wohnt die Romantik, die Geschichte, das Noch-nicht-Entdeckte. Kleine Orte wie Grožnjan, wenige Kilometer von Buje entfernt, scheinen wie geschaffen für Musen, Historiker oder Jungfrauen. Alles wirkt vom Tourismus so unberührt. Stünde das gleiche Steindorf in der Provence oder in der Toskana, kämen täglich Busladungen voller Touristen vorbei. Hier fährt man mit dem Auto auf einen halb leeren Parkplatz, geht einige Schritte - und begrüßt die Idylle.
Grožnjan wurde wie viele Orte im Inneren der Adriahalbinsel auf einer Anhöhe errichtet; der malerische Talblick ist quasi mit eingebaut. Man sieht die Mirna, Istriens längsten Fluss, viel blauen Himmel, Kirchtürme, Weinstöcke und ab und an eine Gruppe Zypressen. Zypressen wirken immer ein bisschen arrogant, weil sie so stolz in den Himmel ragen. Am liebsten möchte man sofort zu Pinsel und Farbe greifen, um ihnen ihr Ebenbild vorzuhalten. Aber wer lässt sich schon von Bäumen provozieren?
Der künstlerische Drang begründet sich anders. Ein Besuch in Grožnjan bringt zwangsläufig Inspiration mit sich. Seit 1965 gilt die 193-Seelen-Gemeinde offiziell als "Stadt der Künstler". In den mittelalterlichen Gassen reiht sich eine Galerie an die nächste. Alles wirkt bunt und lebensfroh, dabei schien der Ort Mitte der 60er-Jahre fast tot zu sein. Eine Gruppe von Künstlern war es, die das verwaiste Grožnjan gerettet und wieder zum Leben erweckt hat. Jetzt ist es Grožnjan, das seine Künstler wieder zum Leben erweckt. Marko Brajkovic führt mit seiner Frau ein Atelier und Feinkostgeschäft. Der 46-Jährige malt direkt vor der Tür. "Nach dem Jugoslawienkrieg war ich leer und wollte nie mehr zeichnen. Erst als meine Frau und ich hier herzogen, sind die Farben zurückgekehrt", erzählt Brajkovic. Zwar hält er die Bezeichnung Künstlerstadt für prätentiös und überflüssig, doch "dieser Ort hat eine unglaubliche Energie. Das liegt am Spirit der Bewohner und an den jungen Leuten, die jedes Jahr neue Ideen und Idealismus mitbringen." Im Sommer wird Grožnjan zu einer einzigen Bühne: Jugendliche üben in der Musikakademie, Erwachsene holen beim Jazzfestival ihre Trompeten heraus - von morgens bis abends Kultur zum hören, sehen und mitmachen. Doch nie zu viel, nie zu laut.
Eine Besichtigung von Grožnjan entspannt den Reisenden schon deshalb, weil es kaum etwas zu besichtigen gibt: Die Wehrmauern stammen aus dem 14. Jahrhundert, der Kirchturm wurde im 17. Jahrhundert gebaut, dazu kommen eine Kapelle, eine sehr lange Treppe und eine Stadtloggia aus der Renaissance. Das war's, der Rest der Zeit bleibt zum Stöbern in den Galerien und Werkstätten, zum Kaffeetrinken in der Kaya Energy Bar oder zum Händchenhalten mit der Liebsten. Die gemütlichen alten Stadtmauern halten die hektische neue Welt ab.
Noch wuchtiger und bis zu 15 Meter hoch sind die Mauern der Festungsstadt Motovun, der größeren, etwas touristischeren Ausgabe von Grožnjan. Sie ist ebenfalls für den Autoverkehr gesperrt, liegt ein paar Kilometer weiter inmitten der Trüffelwälder, und tatsächlich riecht es überall in den Gassen nach Pilzen. Der Weg von der Unterstadt bis zur Stephanskirche (im 16. Jahrhundert vom legendären Renaissance-Baumeister Andrea Palladio entworfen) in die 277 Meter hoch gelegene Oberstadt geht steil hinauf. Für High Heels und Kinderwagen ist dieses Pflaster nichts. Kaum ist das Stadttor durchschritten, stellt sich ein seltenes Gefühl ein. Zufriedenheit. Ausgeglichenheit. Auf jeden Fall fühlt man sich gut in Motovun. "Das geht vielen so", sagt der Eisverkäufer. "Liegt an den Drachenfurchen." An was? Durch weiteres Nachfragen und Recherchen im Internet erfahren wir, dass es sich bei den Drachenfurchen in Istrien um den Verlauf von Erdmeridianen handelt, wobei deren Kreuzungspunkte Kraftorte positiver Energie bilden. Auch den alten Zivilisationen sollen diese energetischen Landschaftsverhältnisse bekannt gewesen sein. In oder unter Motovun träfen gleich drei dieser Erdmeridiane aufeinander, weshalb hier besonders viel positive Energie herrsche. Die Einwohner glauben, dass das Kraftfeld Konzentration, Toleranz, Stärke und Kreativität fördert. Kein Wunder, dass die Radfahrer scheinbar mühelos den Berg hinaufkommen, obwohl sie oft bereits Stunden unterwegs waren.
Das Bergdorf liegt direkt am Rad- und Wanderweg "Parenzana", benannt nach der ehemaligen Schmalspurbahn, die hier einst verlief. Früher ermöglichte sie die Anbindung des armen Hinterlandes mit Hafenstädten wie Porec und Triest. Heute misst die seit 1935 stillgelegte Strecke auf istrischer Seite 61 Kilometer und führt über Schotterwege vorbei an Orten wie Grožnjan und Motovun. Direkt am Weg liegt die Casa Romantica Parenzana, die sich wegen ihrer gemütlichen Konoba zum Einkehren eignet. Was den Franzosen das Bistro und den Italienern die Osteria, sind den Kroaten ihre Konobas. Urgemütlich, rustikal, immer gut besucht.
Ich rufe meine Mama an und frage, wo genau in Istrien wir damals eigentlich waren. "Habe ich vergessen", sagt sie, aber wunderschön sei es gewesen.
Heute riecht es hier nach Lavendel und EU-Beitritt. Mein Mann trinkt Hauswein, lächelt und lobt meine schlecht gesträhnten Haare. Mein Sohn steckt sich alles in den Mund und demonstriert im Babybecken, wie man eine große Welle macht. Ich trage glitzernde Sandalen. Die Sonne scheint entspannt in den Tag hinein. Wir sind glücklich.