Das Glück eines Aussteigers: Sepp Bögle baut an Radolfzells Mole Skulpturen, die physikalische Gesetzmäßigkeiten außer Kraft zu setzen scheinen.
Bodensee. "Radolfzell, An der Mole, letzter Baum". Wer sich so eine Adresse leisten kann, ist entweder verrückt oder vogelfrei. Oder ein bisschen von beidem. Die Post erreicht Sepp Bögle - und der nie versiegende Strom an Besuchern ohnehin. Denn dort, unter einer Platane, steht der Stein gewordene Beweis, dass physikalische Gesetze offenbar außer Kraft gesetzt werden können.
Winzig klein sind die Kontaktpunkte, oft nur wenige Millimeter groß, an denen sich aufeinander gestapelte Steine berühren. Spitze auf Spitze ruhen die glatt geschliffenen Ufersteine aus dem Bodensee, gern auch Spitze auf Außenkante. Bögle überlegt nicht lange, um mit ein paar ruhigen Handgriffen so einen Wunderturm zu kreieren. "Ich spüre es einfach", erklärt er. "Welche Steine ich nehmen muss, wo ihr Schwerpunkt liegt und wie ich sie ausbalancieren muss, ohne dass sie herunterfallen." Viele kritische Beobachter verwandeln sich vor seinen Augen in bedingungslose Bewunderer. Im Fernsehen war der Aktionskünstler schon über 40-mal zu sehen. Doch der 62-Jährige nimmt den Hype um seine Werke gelassen. Hundertmal am Tag beantwortet er geduldig die Frage, ob die Steine zusammengeleimt sind, mit "Nein". Hebt sie zum Beweis hoch und setzt sie ohne Hast wieder ab. Zeigt, wie er mit bloßen Händen Kunstobjekte schafft. Baut auf am Morgen, baut ab am Abend. Nimmt Maß nur mit den Augen, irrt sich niemals, legt nie einen Stein wieder zur Seite.
Und so ändert sich die Ufersilhouette an der Radolfzeller Mole täglich. Mal taucht die untergehende Sonne einen skurrilen Kakteenwald in feuerrotes Licht, mal marschiert eine Armee von Soldaten mit bedenklich schwankenden Köpfen schnurstracks in den See hinein. Je nach der Vorstellungskraft des Betrachters. Nur die Madonna mit dem Kind, die baut Bögle immer wieder auf - weit in den See hinein, bis die Strömung die Figur mit sich reißt.
Gern zeigt der Späthippie Sepp Fotos aus einem anderen Leben. Damals, als er noch Josef hieß. Sie zeigen ihn als smarten Geschäftsmann mit Anzug und Krawatte, glatt rasiert. Etwa doppelt so viel mag er heute wiegen, das braun gebrannte Gesicht von wehendem Haar und einem rauschenden Bart umgeben. Viele kommen zu ihm, um etwas zu erfahren über den Sinn des Lebens. Seinen Stein-Balanceakt betrachtet er als Symbol für Balance im tieferen Sinne. "Viel habe ich von den Steinen gelernt", bekennt er. "Ihre Ruhe überträgt sich auf mich selbst. Früher fehlte mir die innere Mitte."
Früher bestand seine Welt aus einer Familie, einem Haus und einem oft 14-stündigen Arbeitstag. "Als gelernter Industriekaufmann und Koch war ich im Direktvertrieb für Kochtöpfe ständig unterwegs und stand unter enormem Druck." Irgendwann zerbrach die Ehe.
Die Bücher des Schotten Andy Goldsworthy, der Kunst aus Naturmaterialien schafft, inspirierten Sepp Bögle. Gleich beim ersten Mal, als er probierte Steine aufeinanderzuschichten, fügten sie sich mit einer Leichtigkeit zusammen, als ob sie schwebten. Zwei Tage lang war er wie elektrisiert, vergaß fast zu essen und zu trinken.
Sepp ist heute ein glücklicher Mensch. Glücklich, weil er weder Versicherung noch Haus oder Auto besitzt. Erst recht kein Handy. Vor 15 Jahren hat er alles aufgegeben, seine Habe passt in zwei Koffer. Im Spätherbst packt er und überwintert auf Lanzarote.
Nur die Holzbank unter der Platane an der Radolfzeller Mole, die hat er sozusagen gepachtet. Einige Fotos liegen dort aus, die er von seinen Skulpturen aufgenommen hat, und seine Bücher "Ruf der Steine", "Einfach-Sein", "Begegnungen" und "Liebe dein Leben". Vom Verkauf kann er die Zimmermiete in Radolfzell bezahlen und den Flug auf die Kanaren. Mehr braucht er nicht.