Westerau. Warum die Naturressource statt auf der Halde lieber auf Baustellen landen soll. Bislang keine systematische Sammlung in Deutschland.
In diesen Zeiten des klimabewussten Bauens erfährt ein Naturprodukt eine Renaissance, das hierzulande bislang eher als Plage wahrgenommen wird: Seegras. Allein die Gemeinde Scharbeutz beseitigt pro Jahr rund 8000 Tonnen, um ihren Badegästen einen möglichst makellosen Strand offerieren zu können. Mit Vorderradladern wird einfach zusammengeschoben, was das Meer an Land geschwemmt hat. Um es dann zumeist auf Deponien zu schütten und damit dem Vergessen anheim zu geben. Doch damit soll jetzt Schluss sein: Ein Paar aus der kleinen Gemeinde Westerau in Nordstormarn will ein überregionales Netzwerk gründen, um die wertvolle Ressource in großem Stil zu retten.
Seegras: Umgang mit dem Schwemmgut ist eine Sünde
„Das Seegras-Aufkommen an der gesamten deutschen Ostseeküste ist gewaltig, aber nur eine verschwindend geringe Menge wird bislang gesammelt, getrocknet und einer sinnvollen Nutzung zugeführt“, sagt Jörn Hartje. Der Umgang mit Seegras in Deutschland sei eigentlich eine Sünde. Und das Umdenken vollziehe sich viel zu langsam.
Der 53 Jahre alte, studierte Ornithologe und seine Partnerin Swantje Streich sind auf Seegras als Baustoff aufmerksam geworden, als sie für ihre Familie ein altes, 1912 erbautes Bauernhaus kauften. Für die fällige Sanierung empfahl eine gute Freundin, die bekannte Lehmbauexpertin Renata Wendt, den Einsatz von Seegras. Es eigne sich nicht nur für Wände und Decken, man könne mit dem Schwemmgut sogar das Dach belegen.
Selbst im New Yorker Rockefeller Center steckt Seegras
Auf der dänischen Insel Læsø im nördlichen Kattegat wird das schon seit Jahrhunderten so gemacht. Zwar sind nur noch etwa 30 dieser traditionellen, seegrasgedeckten Bauten erhalten. Deren Dächer befinden sich indes noch immer in einem erstaunlich guten Zustand. Früher wurden Kirchen, ganze Siedlungen und sogar Segelschiffe mit Seegras gedämmt.
Übrigens auch jenseits des großen Teichs. Die Firma Cabot’s Quilt aus Boston (Massachusetts) stellte jahrzehntelang Seegrasmatten her, mit denen in ganzen Landstrichen unzählige Häuser gedämmt wurden. Dazu zählen unter anderen berühmte Gebäude wie etwa das Rockefeller Center und die Radio City Music Hall in New York.
Ein Baustoff mit extrem hoher Dämmwirkung
Seegras ist ein Baustoff, der viele, heute mehr denn je gefragte Eigenschaften vereint. „Es schützt mit seiner außergewöhnlichen Dämmwirkung nicht nur vor grimmiger Kälte im Winter, sondern auch vor sommerlicher Hitze“, erklärt Hartje. Es habe sehr gute Schallschutzwerte, sei resistent gegen Schimmel und Ungeziefer und biete zudem einen exzellenten Brandschutz.
Schon mit einer zirka 20 Zentimeter dicken Dämmschicht aus Seegras lässt sich der heute gängige KfW-Standard 55 erreichen, um die hohen Anforderungen des Gebäude-Energiegesetzes (GEG) für Neubauten erfüllen zu können. Der hohe Silikatgehalt der Meerespflanze bewahrt die Dämmung vor Schädlingsbefall. Und weil Seegras nicht zuletzt ein exzellenter CO2-Speicher ist, gilt es als nachhaltigster ökologischer Dämmstoff überhaupt und könnte einen herausragenden Beitrag beim energieeffizienten Bauen leisten.
Nachfragen in einem Volumen von 800 Tonnen
„Die Nachfrage ist deshalb enorm gestiegen“, sagt Hartje. Auf ein Volumen von bis zu 800 Tonnen beziffert er den bei ihm angefragten Bedarf. Im Lager seines Seegrashandels in einem alten Gewächshaus am Rande von Klein Wesenberg lagern unterdessen nur überschaubare Bestände.
„Derzeit verfügen wir gerade über vier bis fünf Lkw-Landungen pro Jahr, alles in allem 40 Rundballen zu je 200 Kilo. Mit dem, was wir zusätzlich noch selbst gelegentlich einsammeln, kommen wir gerade mal auf 50 Tonnen“, berichtet Hartje. Das Gros beziehen er und seine Partnerin aus Dänemark. Dort wird das Seegras von Bauern mit großen Greifern direkt, sortenrein und müllfrei aus dem Meer gehoben.
Auch Hersteller von Matratzen und Kissen rufen an
„Das ist wichtig, damit es sich an Land nicht erst mit Sand vermischt und dann aufwendig gewaschen werden muss“, erläutert Hartje. Genau daran sind alle Versuche einer umfassenden Seegras-Nutzung in Deutschland bislang gescheitert. Weil hier das direkte Ernten aus dem Meer bislang verboten war, standen die Aufwendungen für die Aufbereitung in speziellen Waschmaschinen in keinem Verhältnis zum Ertrag.
Dabei ist Seegras auch bei Herstellern von Matratzen und Kissen zunehmend gefragt. „Es beinhaltet viel Jod, Bor, Kiesel- und Rosmarinsäure. Das beruhigt die Atemwege, entlastet die Schleimhäute und trägt zur Regeneration der Haut bei“, erklärt Swantje Streich. Durch den hohen Silikatgehalt nisten sich selbst nach vielen Jahren keine Milben, Schimmelsporen und Pilze ein, weshalb Seegrasmatratzen und -kissen vor allem für Allergiker hilfreich sind. „Außerdem kann Feuchtigkeit nicht nur gut aufgenommen, sondern auch wieder abgegeben werden“, so die 49-Jährige.
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Seegras: Nachhaltigkeitspreise für die Initiatoren
Um die systematische Sammlung von Seegras an der Ostsee zu forcieren, führt das Stormarner Paar jetzt Verhandlungen mit Kommunen auf Fehmarn, Poel und Rügen. Dort gilt es zudem Wiesen und Scheunen zu finden, um das Meeresgewächs trocknen zu können. Dafür sollen nun Partner gefunden werden. Die dann auch gleich den direkten Transport zu jenen Standorten organisieren sollen, an denen das Seegras verbaut oder verarbeitet werden soll.
Unterdessen ist Bewegung in die Neubewertung des erstklassigen Naturprodukts gekommen. So gibt es jetzt deutliche Signale einer Rechtsanpassung, um das Seegras wie in Dänemark noch vor dem Anlanden direkt aus dem Meer holen zu können. Die Bemühungen von Jörn Hartje und Swantje Streich sind in diesem Jahr schon mit zwei Nachhaltigkeitspreisen honoriert worden, ein dritter soll noch in dieser Woche folgen. „Das Preisgeld von je 10.000 Euro wollen wir in unsere Initiative investieren, damit das Seegras-Sammelprojekt zu einem Erfolg wird“, sagen beide unisono.