Lübeck/Ahrensburg. Musste eine Frau sterben, weil sie anders leben wollte? Ihr Mann habe mit “unvorstellbarer Brutalität gehandelt“, heißt es im Plädoyer.

Im Prozess um den Mord an Ahdia S. (alle Namen geändert) in einer Flüchtlingsunterkunft in Ahrensburg fordern Staatsanwaltschaft und Nebenklage lebenslange Haft für den angeklagten Ehemann des Opfers. Assem S. soll seine Frau (23) in der Nacht vom 5. auf den 6. September 2021 getötet haben, weil sie ihn verlassen und nach westlichen Werten leben wollte.

Vor dem Plädoyer bescheinigte ein Sachverständiger dem heute 39-Jährigen volle Schuldfähigkeit und zweifelte daran, dass sich der Mann, wie von ihm behauptet, an die Tat nicht erinnern kann.

Mord in Flüchtlingsheim: "Sie wollte sich emanzipieren"

Im Plädoyer zeichnete die Staatsanwaltschaft das Bild eines Mannes, der seine mutmaßlich zwangsverheiratete Ehefrau systematisch unterdrückte. „Sie wollte sich emanzipieren“, sagte Staatsanwältin Britta Berkenbusch. Die Beziehung der beiden sei keinesfalls von Gleichberechtigung geprägt gewesen.

Zeugen hatten etwa berichtet, dass Ahdia S. sich gegen ihren Willen mit Kopftuch und langen schwarzen Gewändern kleiden musste. Als sie einmal mit kurzer bunter Kleidung zum Sprachunterricht kam, soll ihr Mann ihr zur Strafe anschließend die Haare abrasiert haben.

Jedes Treffen mit anderen Menschen, jeder Ausflug, Einkaufen in der Stadt: Die 23-Jährige musste ihren Mann um Erlaubnis fragen. Doch Ahdia S. wollte frei sein und nach westlichen Maßstäben ein selbstbestimmtes Leben führen. Dafür, so sieht es auch die Nebenklage, die die gemeinsame, heute zwei Jahre alte Tochter des Paares vertritt, musste sie mit ihrem Leben bezahlen. „Das tragische ist, dass sie ihre Ermordung wohl zumindest erahnte“, sagte Rechtsanwalt Martin Bartsch.

Sie war aus einem Frauenhaus zurückgekehrt

Erst wenige Tage vor der Tat war Ahdia S. aus einem Frauenhaus zurückgekehrt, in das sie im Juli 2021 geflüchtet war. Zuvor hatte Assem S. die Familie seiner Frau massiv bedroht. Ihres gegen vier andere Leben, so habe die 23-Jährige ihre Entscheidung zur Rückkehr begründet, hatte eine Freundin vor Gericht gesagt. Und so kam es dann auch. Martin Bartsch: „Der Angeklagte hat mit unvorstellbarer Brutalität gehandelt.“

Am 5. September hörten Bewohner der Containersiedlung am Kornkamp nachmittags zunächst einen Streit aus der Wohnung des Paares, in der sich auch die Tochter befand. Anschließend soll Assem S. die Rollläden heruntergelassen und die 23-Jährige in dem Zimmer eingeschlossen haben. Zwischen 19 Uhr und 4 Uhr morgens starb Ahdia S..

Als die Polizei ihren Körper fand, war dieser übersät von Messerstichen. Die Rechtsmedizin zählte 29 Einstiche. Die Tatwaffe: Ein Fleischmesser mit einer 20 Zentimeter langen Klinge. Nach der Tat hatte Assem S. ihr das Tatmesser in eine ihrer Hände gelegt. Um einen Selbstmord zu inszenieren, wie der 39-Jährige bereits zugegeben hat.

Mann wollte sich offenbar nach Italien absetzen

Das gemeinsame Kind brachte er zu Verwandten und bestieg dann einen Fernbus nach Mailand, nachdem er am Bahnhof Ahrensburg-Gartenholz Handys und Papiere entsorgte. Auf einem Autohof an der Autobahn 9 bei Hof (Bayern) wurde S. festgenommen.  Er selbst spricht davon, dass er Abstand gewinnen wollte. Britta Berkenbusch nennt es Flucht.

Auch daran, dass Assem S. während der Tat nicht im Besitz seiner vollen geistigen Kräfte war, glaubt die Staatsanwältin nicht. Das, so Berkenbusch, habe die Beweisaufnahme widerlegt. Der 39-Jährige hatte angegeben, zuvor eine halbe Flasche Wodka getrunken zu haben und berief sich auf eine Erinnerungslücke. Einen halben Tag will er nicht mitbekommen haben.

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„Es gibt keinen medizinisch vernünftigen Grund für eine 12-stündige Erinnerungslücke. Das ist nicht realistisch“, stellte der vom Gericht bestellte Sachverständige Dr. Wolf-Rüdiger Jonas klar. Diese sei entweder deutlich kürzer oder nicht vorhanden gewesen. Laut seiner Analyse gab es zudem keinerlei Anzeichen dafür, dass der Angeklagte, wie von ihm selbst behauptet, im Affekt handelte, seine Frau also in einer psychischen Ausnahmesituation ermordete. „Den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, sehe ich nicht“, so Jonas, der S. für die Erstellung seines Gutachtens zuvor in der Justizvollzugsanstalt interviewt hatte.

Keine gravierende psychische Störung festgestellt

Dabei stellte er keinerlei gravierende psychische Störungen fest, die für den Fall relevant gewesen wären. Auch die halbe Flasche Wodka, die Assem S. vor der Tat konsumiert haben will, gab es höchstwahrscheinlich nicht. So gab es keinerlei Rückstände in seinem Körper, die auf eine erhöhte Alkoholkonzentration im Blut am Tattag hinweisen.

Auffällig während der Beweisaufnahme war auch, dass sich der 39-Jährige anders beschrieb, als ihn andere Zeugen wahrgenommen haben. Er selbst gab sich als weltoffen und nicht religiös. So behauptete er etwa, das er seiner Frau erlaubte, ohne Kopftuch das Haus zu verlassen. Assem S. kommt ursprünglich aus Afghanistan und ist mit sieben Brüdern und vier Schwestern aufgewachsen. Eine Schule hat er nicht besucht und kann weder lesen noch schreiben.

Trotz geringer Schulbildung zeigten sich bei dem Angeklagten laut Psychiater Wolf-Rüdiger Jonas keine großen Einschränkungen: „Auffällig war allerdings, dass Herr S. dazu neigt, eigene Schwächen herunterzuspielen. Auch eine gewisse Grundimpulsivität ist vorhanden“ Außerdem habe er im Gespräch wenig Offenheit gezeigt und sei bei wichtigen Fragen eher zurückhaltend gewesen.

Der Prozess wird am Mittwoch, 27. April, fortgesetzt. Dann soll der Verteidiger des 39-Jährigen sein Plädoyer halten. Am Freitag, 29. April, soll ein Urteil gesprochen werden.