Stormarn. Verein sucht Verstärkung für Außenstelle Stormarn. Anfragen gestiegen bei gleichzeitiger Einschränkung des persönlichen Kontakts.
„Du Opfer“ – was vor allem unter Jugendlichen schnell mal als Beleidigung formuliert wird, ist für andere eine beängstigende Realität. Opfer von Kriminellen haben manchmal sogar ein ganzes Leben lang mit den Folgen der Tat zu kämpfen. Doch der Fokus liegt vermehrt auf den Tätern. Die Geschädigten rücken dabei in den Hintergrund, fühlen sich mit der Situation überfordert und allein gelassen.
Die Opferhelfer füllen eine Lücke im System
Diese Lücke im System füllen die Opferhelfer des 1976 gegründeten Weißen Rings: Die Ehrenamtlichen des gemeinnützigen Vereins spenden den Betroffenen Trost und Beistand, begleiten sie durch den Behördendschungel und zum Gericht, helfen bei tatbedingten finanziellen Notlagen und vermitteln beispielsweise anwaltliche Erstberatung oder therapeutische Angebote.
Eine von ihnen ist Rita Funke. Mehr als zehn Jahre hat die Aumühlerin (78) mit dem offenen Blick und den intensiv blauen Augen die Außenstelle Stormarn des Weißen Rings geleitet. Das Amt hat sie aus Altersgründen vor Kurzem an ihren Nachfolger Rolf Meyer übergeben, ist aber weiter als Mitglied aktiv.
Heftigste Fälle kommen direkt von Polizei
Funke beobachtet seit Beginn der Pandemie die Veränderungen, die diese mit sich bringt – sowohl für Opfer als auch Helfer. „Corona hat gewaltige Veränderungen geschaffen“, sagt sie. „Ich merke, dass mir erst jetzt klar wird, was alles dadurch verloren geht.“ Verändert hat sich beispielsweise die Art des Kontakts zu den Hilfesuchenden. Erste Anlaufstelle ist zwar nach wie vor das bundesweite Opfertelefon oder das der Außenstelle Stormarn, die Kontaktaufnahme per E-Mail oder Brief. „Die heftigsten Fälle kommen direkt von der Polizei“, sagt die Ehrenamtlerin.
Ist erst einmal der Kontakt hergestellt, wäre der nächste Schritt eigentlich ein persönliches Treffen mit einem Opferhelfer. Funke sagt: „Das reguläre Vorgehen ist, ein Gespräch bei den Hilfesuchenden zu Hause anzubieten.“ Doch gerade das ist in Pandemiezeiten schwierig umsetzbar, erfordert aufwendige Absprachen. Funke zählt auf: „Den ganzen Bereich mit Vorabfragen, ob man sich trifft – mit Maske oder nicht – und wenn, wo, und dann noch die Überlegung, traue ich mich überhaupt dahin?“
Die psychischen Auffälligkeiten nehmen zu
Am Telefon sei es schwierig, die Gemütslage des Opfers herauszufinden. „In der häuslichen Umgebung lässt sich vieles leichter und einfacher erfragen“, erläutert Funke. Denn die emotionale Verfassung der Opfer spielt eine entscheidende Rolle. Schildern sie das Erlebte realistisch oder vielleicht überzogen aufgrund von Corona, werden Ängste mit Bedrohung verwechselt? Laut Funke nehmen die Fälle von psychischen Auffälligkeiten zu.
„Beim Befragen versuchen wir so wenig amtlich wie möglich zu sein.“ Die Klärung im geschützten Rahmen habe einfach eine ganz andere Qualität. Denn es geht um wichtige Entscheidungen: Soll der Rechtsweg beschritten werden? An welchen Stellen wird Unterstützung gebraucht? Geht es vorwiegend darum, sich etwas von der Seele zu reden, oder besteht dringender Handlungsbedarf wie eine rechtsmedizinische Untersuchung? „Wir begleiten auch zum Gericht, beispielsweise bei einem Prozess wegen häuslicher Gewalt.“ Sie habe als Seelsorgerin 24 Jahre mit männlichen Häftlingen im Gefängnis gearbeitet. Andere Opferhelfer hätten beispielsweise Erfahrung als Polizisten oder in sozialen oder therapeutischen Berufen gesammelt.
Opfer müssen Selbstvertrauen neu aufbauen
Funke berichtet, dass die Zahl der Opferanfragen in der Pandemie gestiegen ist. 2020 seien es knapp 80 gewesen, 2021 bereits 112. Die Frage, ob sie einen für diesen Zeitraum typischen Fall nennen könne, beantwortet die Ehrenamtliche so: „Den gibt es nicht. Dafür viele Fälle im Bereich häuslicher Gewalt, sexueller Übergriffe und Betrug.“
Was sie antreibt? „In der Asche nach Perlen zu suchen, das ist meine Prägung. Beim Weißen Ring sind es die Scherben von zerbrochenem Selbstvertrauen.“ Um sie zusammenzusetzen, sei Hilfestellung nötig, damit ein Mensch das Leben wieder annehmen könne. „Da liegt unsere Möglichkeit jenseits des Faktischen.“ Es gebe ein Leben mit Qualität – auch nach Verletzungen und Verlust, ist Rita Funke überzeugt. Nicht das Leben mit Gefahren sei der Schrecken, sondern die Angst davor.
Der größte Lohn liegt in einer sinnvollen Tätigkeit
Dann schildert sie den Fall eines älteren Ehepaares, das von Einbrechern heimgesucht wurde. In der Folge trauten sich die beiden nicht mehr aus dem Haus. „In einem Gespräch über einen Einbruch ist ganz selten der Sachschaden der Inhalt.“ Das Thema war die Angst. Und schon ein Gespräch genügte, dass die Rentner den Entschluss fassten, sich der Angst zu stellen und wieder rauszugehen. „Das war ein sehr erfreuliches Ergebnis“, sagt Funke.
Auch wenn sie den Vorsitz der Außenstelle abgegeben habe, sei sie nach wie vor begeistert von der Arbeit. Der größte Lohn liege in deren Sinnhaftigkeit. „Ehrenamtliche sind keine billigen Diensthelfer, Ehrenamtliche machen es zur eigenen Erstarkung“, stellt sie klar. Der Weiße Ring sei eine Ergänzung zur institutionellen Opferhilfe, fülle mit seinem Angebot eine Lücke. „Wir als Bürger haben die Möglichkeit, uns selbst einzubringen.“ Um den unterschiedlichen Bedürfnissen von Geschädigten gerecht zu werden, seien die Opferhelfer der Außenstelle Stormarn auf der Suche nach neuen Mitstreitern, die sich gesellschaftlich engagieren wollten. Die wichtigsten Voraussetzungen seien Offenheit und Teambereitschaft.
Als Opferhelfer lernt man nie aus
Damit sie ihre verantwortungsvolle Aufgabe kompetent ausführen können, durchlaufen die Opferhelfer Aus- und Weiterbildungsseminare. Die Teilnahme an regelmäßigen Teamtreffen wird vorausgesetzt, Einzelkämpfer sind beim Weißen Ring fehl am Platz.
Details zu Ausbildung und Aufgaben werden bei einer Online-Infoveranstaltung vermittelt. Daran schließen sich ein Vorgespräch und drei Hospitationen bei Fällen an. Innerhalb eines Jahres müssen zwei Grundkurse absolviert werden. Dann kann es losgehen, immer zu zweit. Bei den internen Treffen halten die Opferhelfer Rücksprache und finden Rückhalt im Team. Wer sich als Opferhelfer bei der Außenstelle Stormarn engagieren will, nimmt Kontakt unter Tel. 0151/55 16 46 25 oder stormarn@mail.weisser-ring.de auf.