Bargteheide. Eltern müssen immer länger auf Betreuungsangebote für Kinder mit Defiziten warten. Zwei weitere Leistungserbringer geben auf.

319 Kinder im Kreis Stormarn erhalten in diesem Jahr eine heilpädagogische Frühförderung. Ob diese Zahl 2022 erneut erreicht werden kann, ist mehr als fraglich. Nach Informationen dieser Zeitung werden zwei der fünf bislang betriebenen privaten Frühförderpraxen im kommenden Jahr nicht mehr existieren. Eine in Großhansdorf hat bereits im September ihren Betrieb eingestellt, Ende Dezember schließt eine weitere in Bad Oldesloe. Davon sind mehr als 100 Kinder betroffen. „Wir sehen die Grundversorgung in diesem Bereich der Daseinsvorsorge massiv gefährdet, es besteht dringender Handlungsbedarf“, sagt nicht nur Heidi Beutin, stellvertretende Vorsitzende der Linken-Fraktion im Kreistag.

Für Jörg Kornatz war diese Entwicklung absehbar. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Kathrin Dammann betreibt er seit 2011 eine Frühförderpraxis in Bargteheide, wo seitdem pro Jahr 40 bis 50 Kinder von sieben Mitarbeitern betreut werden. „Die Diagnosen reichen von Defiziten im Sprachvermögen über Wahrnehmungsstörungen und Hyperaktivität bis zu Auffälligkeiten im sozial-emotionalen Bereich“, berichtet Kornatz.

Es fehlt an personellen und zeitlichen Kapazitäten

Der zeitliche Aufwand ist dabei unterschiedlich. Normalerweise werden die Kinder eine Stunde pro Woche individuell gefördert. In schwierigeren Fällen werden aber auch bis zu vier Stunden genehmigt. Dem ersten Gespräch in den Praxen folgt in der Regel eine fachliche Stellungnahme, bevor dann Amtsärzte des kinder- und jugendärztlichen Dienstes der Kreisverwaltung über den Umfang des Förderbedarfs befinden und ihn per Bescheid für ein Jahr bestätigen.

„Doch was ist ein Bescheid wert, der nicht eingelöst werden kann“, fragt Kornatz. Immer wieder würde die Praxis mit Einzelschicksalen konfrontiert, die für die Eltern überaus belastend seien. Dann aber falle es umso schwerer, Mütter und Väter vertrösten oder gar abweisen zu müssen, weil es schlicht an den notwendigen personellen und zeitlichen Kapazitäten fehle.

Kreis rechnet mit sieben Leistungserbringern

Aus Sicht von Kornatz wird sich die ohnehin bereits angespannte Situation im kommenden Jahr durch die Schließung der beiden privaten Förderpraxen noch deutlich zuspitzen. Mit den verbleibenden drei in Bargteheide und Bad Oldesloe, den Angeboten der Lebenshilfe und der interdisziplinären Frühförderung im Therapiezentrum Bad Oldesloe könnten die verloren gehenden Kapazitäten kaum kompensiert werden.

Das beurteilt die Kreisverwaltung offenbar anders. „2022 werden voraussichtlich sieben Leistungserbringer aus dem Kreis Stormarn zur Verfügung stehen. Darüber hinaus sind in Einzelfällen auch Leistungserbringer aus angrenzenden Kreisen sowie der Hansestadt Lübeck für Kinder aus Stormarn tätig“, teilte Edith Ulferts, Leiterin des Fachbereichs Soziales und Gesundheit, mit.

Länge der Warteliste ist dem Kreis nicht bekannt

Wie viele Eltern aktuell auf eine Frühförderung ihrer Kinder warten müssen, konnte sie nicht sagen, da hierzu „bisher auch keine Erhebung“ erfolge. Die genaue Anzahl sei auch deshalb nicht bekannt, da in den meisten Fällen durch die Leistungserbringer erst Anträge gestellt würden, wenn auch eine Förderung sichergestellt werden könne.

„Tatsache ist, dass immer mehr Kinder bis zu ihrem Schuleintritt Unterstützungsbedarf haben, die Kapazitäten aber immer weiter zurückgehen“, sagt Kor­natz. Das führt er unter anderem auf die Jahr für Jahr schlechter werdenden Rahmenbedingungen für die Praxen zurück. Insbesondere, seit alle elf Kreise in Schleswig-Holstein 2006 und 2016 das Vertragsmanagement auf die Koordinierungsstelle soziale Hilfen (Kosoz) übertragen haben. Die Anstalt öffentlichen Rechts mit Sitz in Kiel verhandelt und vereinbart seitdem die Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen. Mit fatalen Folgen.

Für eine Fachdienststunde gibt es gerade 57 Euro

„Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es nur noch darum geht, die Entgelte für Praxen zu drücken und ihnen Vertragsverletzungen nachzuweisen, um dadurch Rückforderungen zu generieren“, moniert Kornatz. Dabei seien 57 bis 59 Euro pro Fachdienststunde (75 Minuten), was einem Stundenlohn von 43 bis 45 Euro entspricht, nun wirklich kein üppiges Honorar. Zumal mit der Vergütung neben der Bezahlung der Mitarbeiter auch die Miete, das Mobiliar für die Räume, Betriebs- und Telefonkosten, notwendiges Equipment und sogar das Porto bestritten werden müssen.

„Keine Praxis traut sich heute mehr ohne eigenen Anwalt in die Verhandlungen“, sagt Kornatz. Das sage viel über das inzwischen herrschende Klima aus. Und habe den Zerfall der Infrastruktur in der Frühförderung beschleunigt. Von flächendeckenden Angeboten im Kreis könne ohnehin keine Rede mehr sein, seit die Praxen in Reinbek und Glinde bereits vor Jahren aufgegeben haben.

Praxisübernahme scheitert an Gebaren der Kosoz

Jessine Hansen, die ihre Praxis Herz & Hand in Bad Oldesloe aus Altersgründen Ende Dezember nach 24 Jahren aufgeben wird, hatte eigentlich schon eine Nachfolgerin gefunden. „Doch als sie mitbekommen hat, wie es in den Verhandlungen mit der Kosoz zugeht, hat sie die Übernahme abgesagt“, berichtet Hansen. Es könne nicht sein, dass die Kosoz die Bedingungen einseitig und ignorant diktiere und versuche, alle Risiken auf die Praxen abzuwälzen.

Für ihren Kollegen Jörg Kornatz gibt es nur einen Weg aus der Frühförderungskrise, die zudem durch einen akuten Fachkräftemangel forciert werde: „Aufwertung unseres Tätigkeitsfeldes, eine leistungsgerechte Vergütung, weniger Arbeitsverdichtung und vor allem weniger Bürokratie.“ Sollte das nicht gelingen, stehe das gesamte System der Frühförderung infrage.